Was die Causa Jürgens mit Escoffier zu tun hat

von | Mai 12, 2023 | Aufmacher | 0 Kommentare

Seit den Zeiten des legendären Kochs  Auguste Escoffier  sind Profiküchen militärisch organisiert. Nicht umsonst ist von „Küchenbrigaden“ die Rede. Die Rädchen dieser streng hierarchisch nach „Posten“ geordneten Maschine müssen reibungslos ineinandergreifen. Dafür braucht es nicht nur höchste Konzentration, sondern vor allem Drill wie auf dem Kasernenhof, damit die Köche auch unter größtem Druck perfekt funktionieren. Hakt es irgendwo, kann es schnell vorbei sein mit den Meriten, mit denen man das Restaurant gerne schmückt, weil sie Umsatz bringen.

Ein Profiküche, die nach Sternen und Hauben strebt, muss dies jeden Tag mit der gleichen Präzision tun und kann sich keinen Durchhänger erlauben. Von einer Wohlfühlzone kann dabei nicht die Rede sein. Das hat auch die vom “Spiegel” vor einer Woche groß aufgemachten Affäre wegen angeblicher Belästigungen und Übergriffe in der Dreisterneküche von Christian Jürgens am Tegernsee (Restaurant “Überfahrt”) wieder einmal an den Tag gebracht. Hier trifft man auf Verhaltensmuster im Umgang von Chefs mit ihren Mitarbeitern, die in unterschiedlich und individuell gefühlter Intensität, Heftigkeit und Vehemenz zu einer Gesellschaft und damit auch zur Gastronomie gehören und erstaunliche Ähnlichkeiten mit allen Bereichen und Branchen aufweisen, in denen Höchstleistungen in einem engen Zeitraum verlangt werden.

In Küchen, vor allem dann, wenn sie sich dem Wettbewerb um Auszeichnungen stellen, geraten Höflichkeitsfloskeln genauso schnell ins Hintertreffen wie auf dem Fußballplatz, wo um den Pokal gekämpft wird. Voller Einsatz wird verlangt, es geht zur Sache, oft mit hitzigem Gemüt und brennend vor Ehrgeiz, im besten Fall hart aber fair. Wenn das Team perfekt aufeinander eingespielt ist, herrscht in einer Küche zur Stoßzeit eine Atmosphäre wie am OP-Tisch. An jedem Posten wird hochkonzentriert gearbeitet. Oft ist nicht viel mehr ist zu hören als Wortfetzen und das Klirren von Töpfen und Geschirr. Es geht, wenn man so will, um Leben und Tod. Köchen und Chirurgen verzeiht man keine Fehler.

Was den zwischenmenschlichen Umgang unter solchen Hochleistungsprofis anbelangt, bewegt man sich schnell auf dünnem Eis, dessen Tragfähigkeit im gesellschaftsübergreifenden Anspruch einer zivilisierten Gesellschaft und ihrer sozialen und ethischen Maßstäbe definiert ist. Doch alles wandelt und verändert sich. Was früher mit Augenzwinkern noch als Kavaliersdelikt durchging, ob zu Recht oder zu Unrecht, kann heute eine Empörungswelle, neudeutsch „Shitstorm“ auslösen, der erst dann abflaut, wenn der vermeintliche Delinquent hingerichtet wurde. Und zwar öffentlich, schließlich möchte die alles voyeuristisch beobachtende, sich für alles interessierende und alles kommentierende social-media-Gemeinde auf ihre Kosten kommen.

Die Branche selbst hält mutig den Mund und schaut tatenlos zu, wie einer ihrer Besten den Diffamierungen ausgesetzt ist. Denn je nach dem aus welcher Ecke der vermeintliche Täter kommt, sind Hassreden und verbale Entgleisungen plötzlich akzeptabel, der Aufschrei der Tugendwächter und Moralapostel bleibt aus. Der Zweck heiligt die Mittel, der rund 500 Jahre alte Satz von Niccolò Machiavelli beschreibt bis heute treffend das Prinzip zur Erlangung und Erhaltung von Macht, unabhängig von Recht und Moral.

Für eine Gesellschaft, oder sagen wir besser für eine laute und damit unüberhörbare aber immer mehr das öffentliche Meinungsbild prägende Minderheit, die mit politischem Rückhalt für die Utopie einer „gewaltfreien“ Gesellschaft kämpft, sind Männer in harten, leistungsorientierten Berufen ohnehin verdächtig. Also weg mit ihnen. Und zwar so schnell wie möglich, da möchte man sich nicht mit der zeitraubenden Suche nach der Wahrheit aufhalten, die man ohnehin am besten selbst definiert, um Missverständnisse von vornherein auszuschließen. Im Prinzip ist der Angeschuldigte chancenlos, vom Dreck, der geworfen wurde, bleibt immer etwas hängen.

Derzeit prüft die Münchner Staatsanwaltschaft, ob im Fall Jürgens ein Anfangsverdacht für strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt. Falls sich der Koch wirklich etwas vorzuwerfen hat, muss ein Gericht über Schuld und Strafmaß entscheiden. Falls die Prüfung negativ ausfällt oder er in einem ordentlichen Verfahren freigesprochen wird, muss ihm die Chance zu vollständiger Rehabilitation gegeben werden. So viele Spitzenleute gibt es ja nicht in einem Land, dass mehr denn je unter der Auszehrung seiner Eliten leidet.

Foto: Pixabay

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