Metoo ist überall: Die Hinrichtung des Spitzenkochs Christian Jürgens

von | Mai 7, 2023 | Aufmacher | 4 Kommentare

Bislang sah es so aus, als ob Köche die letzten, von der Woke-Gesellschaft noch tolerierten Machos seien. Jedenfalls wenn man sich Kochshows zu Gemüte führt, in denen handfeste Typen wie Tim Mälzer, Tim Raue oder Steffen Henssler ihre Männersprüche rund ums Essen klopfen. Doch nun hat es den ersten Koch erwischt, noch dazu einen aus der Top-Liga der deutschen Gourmet-Gastronomie: Metoo ist überall. Christian Jürgens (Restaurant Überfahrt am Tegernsee, drei Michelin-Sterne) muss wegen angeblicher Übergriffe, Schikanen und Belästigungen von Mitarbeitern seine Kochjacke nehmen.

Freigestellt, heißt das im Jargon des Managements der Althoff-Hotels, einer deutschen Kette von Luxusherbergen, zu der der oberbayerische Gourmettempel gehört. Man sei „erschüttert“ über die Vorwürfe, verurteile grundsätzlich Übergriffe und habe eine Kanzlei mit der detaillierten Prüfung der Vorwürfe beauftragt, rechtfertigt das Hotel die Freistellung ihres leitenden Mitarbeiters, der mit seiner Arbeit nicht nur für Umsatz in Hotel und Restaurant sorgte, sondern auch das beste Marketing-Instrument des Hauses war.

Nur wenige Stunden, nachdem der „Spiegel“ über den ersten Metoo-Fall in der deutschen Gastroszene berichtete, lässt man Christian Jürgens fallen wie eine heiße Kartoffel. Dabei gilt auch für ihn die Unschuldsvermutung. Dass eine Kanzlei die Vorwürfe nun prüfen soll, die oft viele Jahre zurückliegen, ist dabei lediglich die formale Rechtfertigung mit der die standrechtliche Verurteilung von Jürgens auf vermeintlich korrekten Weg gebracht und die Althoff-Gruppe zunächst aus der Schusslinie genommen wird. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, Rückgrat zu zeigen, bis zur genauen Klärung der Vorwürfe zu seinem verdienten Mitarbeiter zu stehen und gleichzeitig die Vorwürfe auf ihre tatsächliche Substanz prüfen zu lassen. Unter Nennung von Ross und Reiter. Jürgens selbst nennt die Anschuldigungen unwahr.

Da klingt es schon fast märchenhaft und naiv, was einmal Errungenschaft einer aufgeklärten Gesellschaft war: Dass ein Beschuldigter so lange als unbescholten zu gelten hat, bis ihn ein ordentliches Gericht rechtskräftig verurteilt. Ein Gericht und kein Revolvermedium, zu dem der „Spiegel“ längst herabgesunken ist! Doch wie sich die Zeiten ändern! Heute droht jedem der Internetpranger in Gestalt eines unvermeidlichen Shitstorms, der sich nicht im vorauseilenden Gehorsam möglichst unverzüglich von einem vermeintlichen Täter öffentlich distanziert. Die Angst sitzt den Betroffenen im Nacken, denn ein von einer lauten Minderheit definierter Mainstream überrollt sonst alles, was ihm im Wege steht. Der ewig gleiche Vorwurf, man mache sich gemein mit Rassisten, Sexisten, Faschisten und Nazis, gehört bewusst zum aggressiven Ton eines immer weiter um sich greifenden, gesellschaftsfähigen Denunziantentums, das mittlerweile auch staatlich gefördert wird.

Ohne Zweifel ist Jürgens, wie man so sagt, kein Kind von Traurigkeit. Mit viel Talent, harter Arbeit und noch mehr Ehrgeiz hat er es in seiner Branche ganz nach oben gebracht. Ein entbehrungsreicher Weg, der natürlich auch charakterliche Spuren hinterlässt, denn insbesondere die Gourmet-Gastronomie ist ein hartes Geschäft, zumal in Zeiten von Personalmangel, explodierenden Energiepreisen und infolge Inflation sinkender Kaufkraft sowie, damit verbunden, noch härterer Konkurrenz. Unumstritten war Christian Jürgens nie, das ist allerdings kaum jemand in dieser Liga. Wer oben ist, hat viele unter sich und nicht jeder kommt mit dieser Rollenverteilung zurecht. Neid und Missgunst sind an der Tagesordnung.

Dass seine Küche kein Kuschelzoo ist (oder war, wie man jetzt wohl sagen muss), eine Ausbildung bei Jürgens kein Kindergeburtstag, gehört zur Realität, ob man das sympathisch findet oder nicht. Fragt man Mitarbeiter, warum sie sich das antun (oder angetan haben), wird man wohl zur Antwort bekommen: weil Christian Jürgens ein sehr guter Lehrmeister war und man hier die Grundlage dafür legen konnte, es vielleicht selbst bis ganz nach oben zu schaffen.

Auch wenn es viele Köche bestreiten: in den meisten Küchen herrscht noch immer ein rauer Umgangston. Stress ist allgegenwärtig, es werden Überstunden geschunden und die Männer und Frauen in Küche und Service kommen sich oft auch körperlich näher, als es manchem lieb sein kann. Manchmal sind sogar Drogen im Spiel. Die Frage, was genau unter Übergriffen oder sexuellen Belästigungen subsummiert werden kann oder muss, ist, sofern es sich nicht um strafrechtlich relevante Delikte handelt, gesellschaftspolitischen Sichtweisen geschuldet, die sich überdies im Laufe der Zeit wandeln.

Es mag brutal klingen, aber eine Gewalt freie Gesellschaft gibt es nicht, vor allem nicht in Sphären wie der dem Spitzensport vergleichbaren Sternegastronomie, in deren Kombüsen gekämpft wird, während die Gäste auf dem Sonnendeck genießen. Der große US-Schauspieler John Malkovich sagte jüngst in einem Interview: „Gewalt ist ein Teil des Lebens, ein Teil der Natur. Sie ist unvermeidbar. Besser, mit ihr vertraut zu sein.“ Provokativ in Zeiten, wo jeder Mann ohne Dutt und Baby vorm Bauch automatisch unter Verdacht gerät.

Doch die Kernfrage auch dieses Metoo-Skandals lautet: Warum kommen Mitarbeiter, denen das offenbar passiert ist, was sie vorbringen, erst jetzt damit ans Licht? Nach teilweise zwanzig Jahren! Warum wird eine Ohrfeige, die Jürgens einem Mitarbeiter verpasst haben soll, nicht sofort zur Anzeige gebracht und möglicherweise geahndet, sondern Jahre später in einem Artikel des Spiegels skandalisiert? Wer kocht hier eigentlich welches Süppchen? Es bleiben offene Fragen und es muss schlüssige, nachvollziehbare und personifizierte Antworten geben, bevor man einen großen Koch wie Christian Jürgens abserviert.

Foto: Pixabay

4 Kommentare

  1. Dem ist nichts hinzuzufügen ! Häme und Schadenfreude finden schnell Anhänger. Leistung und Erfolg Neider.
    Niedertracht feiert fröhliche Urständ !

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  2. Danke für diese differenzierte Sichtweise, die man vielerorts inzwischen vermisst.

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  3. Sehr erfreulich, dass Sie nicht in diese Rufmordkampagne einsteigen, sondern auf die Unschuldsvermutung hinweisen!
    Ein Mitarbeiter von mir hat sein Praktikum bei einem Münchener Sternekoch nach 3 Tagen abgebrochen, weil die Köche mittags schon besoffen waren und die Enten durch die Küche flogen wie auch Kochlöffel und Bratpfannen. Sterneküche ist Hochleistungsresort. Dass es da ruppig zugeht, ist verständlich. Ich vermute einen persönlichen Rachefeldzug hinter dieser Kampagne.

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  4. Die Causa Jürgens stinkt.
    Warum hat sich keiner der Betroffenen gewehrt und das zwanzig Jahre nicht?????
    Es hat doch Gerüchte im Hotel gegeben. Was hat der CEO des Hotels Überfahrt unternommen? Was hat die Althoff Gruppe unternommen???
    Alle haben nichts getan. Das nenne ich ein Versagen aller Beteiligten.

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