Vom süßen Schnee zur Eisbombe – Kleine Kulturgeschichte des Speiseeises

von | Juni 28, 2024 | Aufmacher | 0 Kommentare

In manchen traditionsreichen Hotels kann man das opulente, kulinarische Schauspiel noch genießen. Wenn sich die Speisenfolge eines abendlichen Menüs an einem besonderen Tag, einem Festtag, ihrem Ende zuneigt und die Teller mit dem Hauptgericht abgeräumt sind, erlischt plötzlich das Licht im Speisessal. Feierliche Musik erklingt, zu deren Klängen das Servierpersonal im Gänsemarsch große Platten mit kunstvollen, süßen Gebilden hereinträgt, auf denen Feuerwerksfontänen und Wunderkerzen sprühen. „Aaah“ und „Ohhh“ rufen die Gäste, dann wird geklatscht.

Wenn das Feuerwerk erloschen ist und das Licht wieder angeschaltet, werden die Dessert-Kreationen den erwartungsvollen Essern präsentiert und mit großer Geste angeschnitten. Es handelt sich um Eisbomben, gefrorene Torten aus Biskuitteig, Speiseeis und Sahne, in vielen, klug komponierten Schichtungen, und üppig dekoriert mit Schokolade, kandierten Früchten oder anderem, essbaren Zierrat. Eisbomben heißen sie, weil sie mit ihrer halbrunden Form wirklich wie Bomben aussehen. Nur ist das einzige, was hier explodiert, der Geschmack.

Eisbomben und Eistorten sind Konditorenkunst in Vollendung. Umso bedauerlicher, dass man sie immer seltener zu sehen und serviert bekommt, weil sie dem gängigen Schlankheitsideal widersprechen. Einem Ideal, dem mittlerweile fast die gesamte Patisserie-Herrlichkeit als krönender Abschluss eines festlichen Mahles zum Opfer zu fallen droht.

Das Verlangen nach Fitness und ewiger Jugendlichkeit hat indes einer anderen Form von Speiseeis zu wachsender Popularität verholfen, den Sorbets. Sie gelten als leicht und erfrischend und werden gerne als Zwischengang eines mehrgängigen Gourmetmenüs kredenzt. Oder als Assortiment verschiedener fruchtiger Geschmacksrichtungen zum Dessert. Wobei ihre vermeintliche Leichtigkeit eigentlich eine Täuschung ist, denn sie enthalten zwar keine Sahne oder Eier, dafür jedoch jede Menge Zucker.

Im Gegensatz zur hoch komplizierten Zubereitung einer Eisbombe sind Sorbets vergleichsweise einfach herzustellen. Sie stehen auch am Beginn einer langen  Geschichte der Kunst der Speiseeisbereitung, die nicht, wie man annehmen könnte, in Italien ihren Anfang nahm, sondern im alten China, als sich die Herrscher aus dem Hochgebirge Gletscherschnee kommen ließen, der mit Früchten, Säften und Honig aromatisiert wurde. Über den arabischen Raum, wo man auch Rosenwasser zu Parfümierung nutzte, gelangte die Eismacherkunst nach Europa, etwa auf die italienische Halbinsel, wo von hoch gestellten Römern ebenfalls der Genuss von gesüßtem, aromatisiertem Wassereis oder Schnee überliefert ist.

Kaiser Nero soll Boten in die etwa 1000 Meter hohen Albaner Berge bei Rom geschickt haben, um Eis als frivolen Genuss zu beschaffen. Wem es unterwegs schmolz, der musste angeblich Bekanntschaft mit den Löwen des Imperators machen. Doch diese Schauergeschichte stimmt wohl ebenso wenig wie die kaiserliche Urheberschaft des großen römischen Stadtbrandes im Jahre 64 zur Regierungszeit Neros, dessen Regierungsstil man heute wohl „umstritten“ nennen würde. 

Das Wort Sorbet ist eine Ableitung aus dem Persischen, wo das Fruchteis Scherbett heißt. Varianten von Scherbetts oder Sorbets sind das Granité oder die Gramolata. Sie unterscheiden sich durch die spezielle Art des Gefrierens. Während ein Sorbet zu einer homogenen Massen gerührt ist, wird ein Granité möglichst kristallin gefroren und gilt als besonders kühl und erfrischend.

Gewisse Anklänge an ein Granité vermittelten jene knallbunten Wassereisstangen, die unter Namen wie „Alaska Boy“ oder „Polarsticks“ oft zum Selbsteinfrieren im Supermarkt verkauft werden. Die billigsten Varianten bestehen nur aus Wasser sowie allerlei Farb- und Aromastoffen, die Fruchtgeschmäcker vortäuschen sollen. Kinder saugen gerne die fruchtige Kunstbrühe aus dem kalten Eisblock, der dann mitsamt der Plastikhülle im Abfalleimer landet.

Die Geschichte des Speiseeises ist im Wesentlichen eine Geschichte der Kältetechnik. Schon um das Jahr Tausend soll bekannt gewesen sein, dass man mit einer Mischung von Schnee bzw. Eis und Salz oder Kaliumnitrat Temperaturen von deutlich unter Null Grad erzeugen kann. Bis zur Erfindung elektrischer Kältemaschinen war dies die einzige Möglichkeit, in der warmen Jahreszeit Speiseeis herzustellen. Das dafür benötigte Stangeneis schnitt man im Winter aus zugefrorenen Gewässern und lagerte es in speziell isolierten Kühlkellern, die oft von großblättrigen Bäumen beschattet wurden – Ursprung auch der heutigen Biergärten mit ihren Kastanienhainen. 

Italienische Eismacher praktizierten die Technik der Eisbereitung mit zerkleinertem Wassereis und Salz wohl seit dem 16. Jahrhundert an europäischen Höfen, nicht zuletzt in Frankreich unter Ludwig XVI. Der Sizilianer Francesco Procopio de Coltelli, ein ehemaliger Koch des Sonnenkönigs, soll 1668 in Paris die erste Eisdiele eröffnet haben. Im höfischen Umfeld entwickelten sich dann auch jene elaborierten Rezepturen, die in köstlichen Eisparfaits, Eis-Soufflés und Eisbomben gipfelten.

Bei den ersten „Eismaschinen“, die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkamen, handelte es sich um Holzbottiche, in deren Innerem auf einem Sporn ein metallener Behälter saß, der durch eine massive Apparatur mit Zahnrädern und einer Handkurbel in Rotation versetzt werden konnte. In den Zwischenraum zwischen dem Behälter mit der eigentlichen Eismasse und der Holzwand wurden zerkleinertes Stangeneis und Salz gefüllt. Das Drehen der Kurbel setzte nicht nur den Behälter selbst in Bewegung, sondern auch ein Rührwerk, das sich in seinem Inneren befand und dabei die langsam gefrierende Speiseeismasse von den Wänden des Metallgefäßes abstreifte. Auf diese Weise entsteht eine geschmeidige Masse, die später beim Essen buchstäblich auf der Zunge zergeht. Ein Cremeeis ist geboren.

Creme- oder Sahneeis besteht, anders als ein reines Fruchteis, aus Sahne und/oder Milch, Zucker, Eigelb und den gewünschten Aromaten wie Vanille, Schokolade oder Karamell. Für ein Vanilleeis, vielleicht das beste Cremeeis überhaupt, wird Eigelb mit Zucker, Milch, Sahne und einer ausgekratzten Vanilleschote mittels vorsichtiger Wärmezufuhr zu einer leicht dicklichen  Englische Creme verarbeitet, die auch Basis ist für wunderbare Dessert wie eine Bayerische Creme. Nur ohne Gelatine natürlich, denn zur festen Konsistenz verhilft der Creme die Kälte.

Eine ganz andere Kultur als Konditor mäßig hergestellte Eisbomben und Eistorten stellt jenes Speiseeis dar, das in Form von Kugeln verkauft und aus Waffelhörnchen oder kleinen Pappbechern „to go“ auf der Straße gegessen wird. Hierzulande wurde diese, wenn man so will, demokratische Art des Eisgenusses von italienischen Einwanderern verbreitet, die ab der Zeit zwischen den Weltkriegen nach Österreich und Deutschland zogen und unter anderem mit der Speiseeisherstellung ihren Lebensunterhalt verdienten. Viele kamen aus dem Val di Zoldo in der einst sehr armen italienischen Provinz Belluno, auch als „Tal der Eismacher“ bekannt. Im Sommer bedienten sie ihre Kundschaft jenseits der Alpen mit kalten Köstlichkeiten, im Winter zogen sie oft wieder zurück in ihre Heimat, um dort etwa als Skilehrer zu arbeiten.

Bis heute wird die Mehrzahl der rund 5000 Eisdielen in Deutschland von italienisch stämmigen Familien geführt. Die merkwürdige Bezeichnung „Eisdiele“ kommt daher, dass man in die ersten Läden nicht hineingehen konnte. Die Eismacher verkauften ihre Portionen gewissermaßen aus einem Fenster der eigenen Wohnung heraus. Damit die Kunden besser an das Fenster und ihr Eis kamen, nagelte man dafür ein Podest aus Holzdielen zusammen.

Leider hat das, was heute in den meisten Eisdielen verkauft wird, mit echtem, handwerklich-konditormäßig hergestellten Speiseeis nur noch wenig zu tun. Die Mehrzahl deutscher Eismacher greift zu Fertigprodukten, die die Industrie in großer Zahl anbietet und immer nach dem neuesten Geschmack – gerade liegen „Salzkaramell“ und „Cheesecake“ im Trend. Diverse Grundmassen und aromatisierende Pasten, die voller billiger Aroma- und Ersatzstoffe stecken, brauchen dann nur mit Flüssigkeit angerührt zu werden, bevor man sie in die vollautomatische Eismaschine kippt.

Zu allem Überfluss darf das Ergebnis sogar als hausgemacht verkauft werden. Die Vielfalt von bis zu zwanzig oder mehr Eissorten, die in den Auslagen der Eisdielen zu prächtig-bunten Eisgebirgen angehäuft werden, ist nicht selten ein Fake und durchaus imstande, den Tatbestand klassischer Verbrauchertäuschung zu erfüllen. Oft schmeckt eine Sorte wie die andere – alles viel zu süß, die Konsistenz von aufdringlich-pappiger Geschmeidigkeit.

Da kann man auch gleich zu „Mövenpick“-Eis aus der Supermarkt-Tiefkühle greifen oder einem beliebigen „Eis am Stil“, eine Darreichungsform, die in den von dem US-amerikanischen Limonadenhersteller und Erfinder Frank Epperson ersonnen wurde. 1923 ließ er sich seine geniale Idee patentieren. Ansonsten stehen die Speiseeis süchtigen Amis auf die XXXL-Packungen der Lebensmittelindustrie, wobei Premiummarken wie das schwer aussprechbare Häagen Dasz-Eis durchaus höhere Qualitätsanforderungen zu erfüllen vermögen.

Eine andere große Speiseeisnation ist, wer hätte es gedacht, Russland. Die beliebteste russische Eismarke, die sogar an sibirisch kalten Tagen im Gehen auf der Straße verspeist wird, ist ein süßes, weißes Cremeeis namens Plombir. Bei einer plombière handelte es sich um ein Küchenutensil aus Zinn, in dem das Eis gefroren wurde. Die Römer bezeichneten Zinn auch als „weißes Blei“. Blei auf französisch wiederum heißt – le plomb.

Irgendwann tauchte in dem 1798 von einem neapolitanischen Eiskonditor gegründeten Pariser Café Tortoni die „Glace Plombières“ auf. Honoré de Balzac entdeckte und beschrieb die Spezialität, die „in Pyramidenform“ in Gläsern serviert wurde und obenauf mit kandierten Früchten bestreut war.

Wann genau und auf welchem Wege Plombir-Eis nach Russland kam, weiß niemand, wahrscheinlich über reiche russische Kurgäste, die seinerzeit die westeuropäischen Badeorte bevölkerten wie heute Araber oder Chinesen.

So international sich Geschichte und Genuss von Speiseeis darstellen, so hartnäckig halten sich nationale Traditionen. In Frankreich beispielsweise hat sich die Inhaber geführte italienische Eisdiele nach deutschem Vorbild nie durchgesetzt. Heißen sie nun „Adria“, „Venezia“, „Cortina“ oder „Dolomiti“ – in unseren Lieblingseidielen spiegelt sich auch ein Stück bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte.

Den Herz wärmenden Nostalgiefaktor haben hippe Newcomer mit coolen Namen wie „Der verrückte Eismacher“ aus München mit exotischen Sorten wie „Schweinebrateneis“ und „Maracuja-Basilikum“ oder die in Großstädten immer häufiger anzutreffenden veganen Eissalons nicht zu bieten.

Foto: Pixabay

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