Editorial

von | Aug 16, 2022 | Ansage | 1 Kommentar

Essen ist Genuss! Essen ist Vielfalt! Essen ist Tradition! Essen ist Gemeinschaft! Essen ist Unmaß, aber auch temporärer Verzicht! Essen ist Kultur!

Doch es scheint paradox: In Zeiten, in denen es die besten und sichersten Lebensmittel in einer nie dagewesenen Vielfalt gibt, in denen zumindest in den entwickelten Industrieländern der einst allgegenwärtige Mangel kein Thema mehr ist und alle Genüsse dieser Welt zu jeder Zeit verfügbar sind, genau jetzt scheint für immer mehr Menschen Essen eine Gefahr darzustellen. Immer mehr Verbote umstellen den freien Genuss, eine neue, rein säkular begründete Verzichtsrhetorik bestimmt zunehmend den Diskurs über gutes Essen und Trinken.

Wer noch Fleisch isst, macht sich mitschuldig an der Klimaerwärmung! Wer noch Fisch genießt, an der Ausplünderung der Ozeane! Gänsestopfleber? Geht gar nicht von wegen Tierschutz! Die einen meiden Kohlenhydrate, andere Salz, Fett, Alkohol. Überall nein, nein, nein und kein, kein, kein. Und vor dem Besuch eines Restaurants werden der Küche lange Listen mit Unverträglichkeiten übermittelt, denn fast jeder meint, gegen irgendetwas allergisch zu sein. Biologische Produktion und regionale Herkunft werden zur Religion, ohne dabei auf das wichtigste zu achten: ob sie schmecken! Das Suppenkasper-Syndrom hat die Gesellschaft fest im Griff. Doch ist die einzige echte Unverträglichkeit nicht die Ideologie?

Zeitgleich verfällt im Rekordtempo das, was wir bürgerliche Esskultur nennen, und die Corona-Pandemie, die mit Monate langen Schließungen vor allem die Gastronomie betraf, hat diesen Prozess ungemein beschleunigt. Fastfood und Online-Lieferdienste boomen wie nie zuvor und der allgegenwärtige Personalmangel macht vor allem den letzten, normalen Wirtshäusern zu schaffen. Mit ihnen und mit dem Verfall von Familienstrukturen geraten viele Traditionsgerichte in Vergessenheit, die den deutschen Speiseplan lange Zeit geprägt haben: Pizza statt Pichelsteiner, Tacos statt Königsberger Klopse, Suhshi statt Sauerbraten oder Schnitzel.  Die von leeren Pizzakartons überquellenden öffentlichen und privaten Mülleimer können als Symbol für diese traurige Entwicklung stehen.

Auf der anderen Seite kommt auch das unter Druck, was wir die Hoch- oder Sterneküche nennen. Selbst in Frankreich, dem Mutterland der grande cuisine, sind Gerichte, die legendäre Köche wie Marie-Antoine Carême, Auguste Escoffier, oder Paul Bocuse geschaffen haben, nur noch selten auf den Speisekarten der großen Restaurants vertreten. Stattdessen beherrscht eine „kreative“ Molekular- und Pinzettenküche die Szene, deren Extravaganzen oft nur dafür gemacht zu sein scheinen, um auf sozialen Medien wie Facebook oder Instagram gepostet zu werden.

Und wo ist die kritische Gastro-Publizistik geblieben? Von den unsäglichen Kochshows im Fernsehen einmal abgesehen, wird auch die Fach- und Tagespresse oft von einem servil-merkantilen Journalismus dominiert, der es nicht mehr wagt, Fehlentwicklungen anzuprangern und zuverlässig jeder Mode auf den Leim geht. In der unübersichtlichen Szene der Foodblogger sieht es ähnlich dürftig aus. Viel mehr als Rezepte für fleischlose Burger und Zucker freie Muffins kann man in den Weiten des Internets nicht erwarten, von Kritik oder einem eigenen Standpunkt kaum die Spur. Wolfram Siebeck, Deutschlands erster und einziger Fresspapst, der mit seinen ebenso scharf wie originell formulierten Kritiken Maßstäbe setzte, würde sich bei so viel Anbiederung an den Zeitgeist im Grabe umdrehen.

Genau hier will unser Blog „Aufgegessen!“ ansetzen. Wir werden uns nicht scheuen, den Finger in die Wunde zu legen. Wir werden das zum Thema machen, was uns gegen den Strich geht: die Wokenes in Küche und Keller, die Auswüchse einer ideologisch begründeten Cancel Culture, die längst Teller und Kochtöpfe erreicht hat und dem freien Genuss zunehmend im Wege steht. Wir wollen streiten für das, was man Hausmannskost nennt, wir wollen auch ganz normalen Wirtshäusern und Produzenten eine Plattform geben, die Qualität und Tradition achten, wobei das Festhalten am „guten Alten“ nicht bedeuten muss, keinen Sinn für organische Weiterentwicklung zu haben. Manches, was wir zu sagen haben, wird vielleicht für den einen oder anderen schwer verdaulich sein.

In diesem Sinne trotzdem: Guten Appetit beim Lesen! 

Die Blogger: Ingo Swoboda

Der Rheingau hat mich hervorgebracht, jener begünstigte Landstrich, welcher fröhlich bevölkert, wohl zu den lieblichsten der bewohnten Erde gehört. Als Thomas Mann diese Zeilen für seinen Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ schrieb, war an mich noch nicht zu denken. Ich kam erst 1961, als die Berliner Mauer gebaut und im Bordelais ein Jahrhundertjahrgang eingefahren wurde, in Eltville am Rhein zur Welt, ging dort als katholischer Junge in den evangelischen Kindergarten und lernte schon früh die herbstliche, meist kalte und verregnete Weinlese kennen, um etwas Taschengeld zu verdienen. Es waren harte aber schöne Zeiten, in denen es Herbstferien gab, damit die Kinder in die Weinlese gehen konnten. Und sie lehrten mich schon früh die Lektion, dass Weine nicht im Weinberg entstehen, sondern im Keller gemacht werden. Daran ändern auch akademische Diskussionen von Theoretikern nichts. Die Knochenarbeit im feuchten Keller habe ich noch hautnah auf dem legendären, leider verschwundenen Weingut Schloss Eltz kennengelernt. Die Arbeit im schattenlosen Weinberg als Jugendlicher während der Sommerferien.

Auf ausdrücklichen Wunsch meines Vaters lernte ich Akkordeon und Klavier spielen. Ohne jegliche Begabung. Trotzdem war ich in den bunten 1970er Jahren Mitglied der Band „The Black Dogs“ und spielte Orgel, was heute einem Keyborder gleichkommt. Klingt viel cooler. Nach dem Abitur am Rheingau-Gymnasium ging es zum Studium der Rechts- und Staatswissenschaften zunächst nach Mainz, dann nach Dijon im Burgund. Meine profunde Liebe zu Frankreich, die mich bereits in frühsten Kindertagen packte, wurde in dieser stolzen, bäuerlich geprägten, gleichsam kulinarisch und kulturell wichtigen französischen Provinz jeden Tag aufs Neue bestätigt. Sie hat bis heute gehalten! Nach dem ersten Staatsexamen war klar, dass mir die interessanten Jobs am „Jüngsten Gericht“ verschlossen bleiben würden und ich gab meiner eigentlichen Leidenschaft nach und begann ein Volontariat in einem großen Frankfurter Verlagshaus. Es folgte eine mehrjährige Tätigkeit als Redakteur in der bunten Modewelt, begleitet von spannenden Reisen und interessanten Begegnungen. Mitte der 1990er Jahre bekam ich das Angebot als stellvertretender Chefredakteur zu einem Wein-Magazin nach Mainz zu wechseln. Zeitgleich erschienen meine ersten Bücher, die sich mit Essen und Trinken und der daraus entstehenden Kultur beschäftigten. Einige davon wurden auf der Frankfurter Buchmesse, in London und in der Schweiz mit Preisen ausgezeichnet. Bis heute sind es fast 100 Bücher geworden, an denen ich mitgearbeitet oder selbst geschrieben habe. Dazu unzählige Artikel in Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Anfang 2000 erfolgte der Ruf nach Hamburg, wo gerade ein neues Wein-Magazin aus der Taufe gehoben wurde. Ab der zweiten Ausgabe war ich mit dabei. Vom Norden ging es Jahre später in den Süden, oder zumindest in die Richtung. Sieben Jahre waren Neustadt an der Weinstraße und Deidesheim meine zweite Heimat, beruflich als Leiter eines Verlages für kulinarische Bücher, dann als Geschäftsführer zweier Hotels inklusive dreier Restaurants, eines davon mit einem Michelin Stern ausgezeichnet. Eine wichtige Erfahrung, die meine journalistische Sicht auf die Gastronomie und Hotellerie veränderte. Gut, wenn man über Dinge schreibt und kritisiert, die man von allen Seiten kennt.

Da ich nie sonderlich gut kochen konnte, aber eine ausgeprägte Affinität zu diesem großartigen Handwerk habe, weil schon meine Oma Lina (Jahrgang 1899) Köchin war und zu jedem Familienfest mein damaliges Lieblingsgericht „Zunge in Madeira-Soße mit Salzkartoffel“ kochte, und ich bis heute viel und gut essen kann, wurde meine journalistische Alltagsarbeit um Restaurant-Kritiken erweitert, die sichtbare physische Spuren hinterlassen haben. Aber solange der Geist wach ist, moderiere ich Veranstaltungen, halte Vorträge und mache kulinarische Lesungen und Weinproben auf eine etwas andere Art, begleite Reisen und zeige liebend gerne Menschen meine Heimat im engeren und weitesten Sinne. Und natürlich schreibe ich. Artikel rund um die Themen Essen und Trinken, gerade auch ein Buch über den Rheingau. Die Erinnerung an unbeschwerte Kinder- und Jugendtage an den Schlössern der Loire haben mich dazu bewogen, Licht- und Ton-Shows „son et lumiére“ für historische Stätten wie das Niederwalddenkmal und Kloster Eberbach, aber auch für Weinberge zu konzipieren und umzusetzen. Im Jahre 2020 habe ich die „SEEFOOD Company“ gegründet, die sich auf vielfältige und ungewöhnliche Art und Weise mit Kulinarik beschäftigt.

Und dann bin ich Georg Etscheit begegnet. Auf unserem 40jährigen Abiturtreffen. Und genau solange haben wir uns nicht gesehen oder gehört, obwohl wir beide in Eltville groß geworden sind. Wir wussten wenig voneinander, nur, dass wir zusammen Abitur am Rheingau-Gymnasium in Geisenheim gemacht hatten. Jetzt wissen wir, dass wir uns im kulinarischen und gastrosophischen Interesse ähneln, beide eine realistisch- konservative Sicht auf die Dinge haben, mit der spitzen Feder umgehen können und uns trauen auch Themen anzusprechen, um die viele Zeitschriften, Zeitungen und Magazine gerne einen Bogen machen. Deswegen unser Blog! Aufrecht, sicher manchmal unbequem, immer kritisch aber nie einseitig, fair, frei und unbestechlich. So machen wir das, viel Spaß beim Lesen!

Die Blogger: Georg Etscheit

Meine Laufbahn als Journalist begann mit einem kleinen Skandal. Als knapp Zwanzigjähriger schrieb ich für das Wochenblatt „Rheingau-Echo“, eine in meiner Geburtsheimat, dem Rheingau, bis heute viel gelesene Publikation. In einer Reportage über das Erbacher Erdbeerfest ließ ich mich über die dort traditionsgemäß in großen Mengen ausgeschenkte Erdbeerbowle aus, der ich sinngemäß attestierte, sie schmecke nicht, weil sie mehr Wasser als Wein (oder Sekt) enthalte. Die unbewiesene Tatsachenbehauptung – Presserecht sollte ich erst später an der Uni belegen – zog beinahe eine Klage der betroffenen Festwirte nach sich.

Ich glaube, meinem damaligen Verleger Horst Seikel, einem couragierten Mann, gefiel der Bericht trotzdem, vielleicht auch meine aufmüpfige Art. Jedenfalls stellte er sich hinter beziehungsweise vor mich, veröffentlichte klaglos die geforderte Gegendarstellung und ließ die peinliche Angelegenheit im Sande verlaufen.

Wie Ingo verdiente ich mir – Jahrgang 1962 – in meinem Heimatort Eltville am Rhein allherbstlich etwas Geld bei der Weinlese. Der Ruf „Eddtraube raffe““ (Soviel wie: „Hebt gefälligst die heruntergefallenen Trauben auf!“) schallt mir noch heute bin den Ohren. Damals wurden alle vom Stock auf den Boden gefallenen, oft angeschimmelten Trauben aufgelesen und zu so etwas wie Wein verarbeitet – in der extrem selektiven Lesepraxis unserer Tage undenkbar. Im eigentlichen Sinn begann mich Wein allerdings erst einige Zeit später zu interessieren, als ich genug Geld verdiente, um mir irgendwann meine erste Flasche Bordeaux leisten zu können, eine Offenbarung.

Nach ebenso harten wie lehrreichen Jahren an der lokaljournalistischen Front zog ich zum Studium der Journalistik und osteuropäischen Geschichte nach München und verbrachte auch ein halbes Jahr für ein Sprachstudium in Moskau. Politisch war die Endphase von Gorbatschows Perestoika elektrisierend, verpflegungstechnisch jedoch desaströs. Anständige Lebensmittel konnte man damals eigentlich nur auf den privaten Märkten kaufen, die für die meisten Russen unerschwinglich waren. Ich erinnere mich, dort die besten Zitronen meines Lebens erstanden zu haben. Sie waren ungeheuer aromatisch und so süß, dass man sie wie Orangen essen konnte. Ihr Geheimnis: Irgendjemand hatte sie voll-, fast überreif gepflückt wahrscheinlich irgendwo im Kaukasus, und sie wahrscheinlich in der Passagierkabine einer Aeroflot-Maschine innerhalb von Stunden nach Moskau expediert. Frische zahlt sich eben aus, immer und überall.

Nach einem Volontariat bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa), für die ich in Moskau zu arbeiten begonnen hatte, wurde ich zunächst Redakteur in der Hamburger dpa-Zentrale und erlitt dort die norddeutsche Grünkohl und Pinkel-Kultur,  danach landespolitischer Korrespondent unter „König“ Kurt Biedenkopf in Dresden, dessen kulinarische Landschaft kurz nach der Wende noch ganz im Zeichen realsozialistischer Genussverweigerung stand. Die Sachsen freuten sich über „Nudeln von Barilla“, die sie für eine besondere Spezialität hielten. Bei der Filial-Kette Nordsee, die als eine Art dpa-Kantine angesehen werden konnte, wurden man mit der in breitem Sächsisch immer wiederkehrenden Frage „Mus oder Salot“ konfrontiert. Ich entschied mich stets gegen Kartoffelbrei und für (Kartoffel)salot als obligatorische Beilage, weil der offenbar mit Industriemayonnaise gemacht wurde, was in diesem Fall ein Qualitätsmerkmal war. Damals lernte ich auch den berechtigterweise gerühmten Original Dresdner Stollen kennen und die Lebkuchentradition eines kleinen Städtchens namens Pulsnitz. Jedes Jahr schrieb ich über diese Spezialitäten.

Im Jahre 2000 gab ich meine Festanstellung bei der dpa auf und zog zurück nach München, schrieb jedoch weiterhin frei für die Agentur, unter anderem zwanzig Jahre lang exklusiv über die Salzburger Festspiele und andere Orte der klassischen Musik und des Musiktheaters. In diesem Zusammenhang hatte ich die Ehre, eine Biografie des leider viel zu früh gestorbenen, großen Dirigenten und Umweltschützers Enoch zu Guttenberg zu schreiben, der mich in seinem Schloss in Oberfranken mit selbst geschossenem Reh bewirtete. In Bayern und Österreich war ich endlich der norddeutschen und sächsischen Kulinarik-Diaspora entflohen und begann nach und nach, mich auch publizistisch diesem Themenbereich zu widmen. Heute schreibe ich darüber für diverse Magazine und eine große Tageszeitung sowie den Internetblog „Achse des Guten“, wo ich wöchentlich die Kolumne Cancel Cuisine unter anderem mit kritischen Seitenhieben auf die ökologische Verzichtsmentalität oder den Niedergang der Traditionsküche bestücke. Dann traf ich Ingo…

1 Kommentar

  1. Ich bin immer wieder erschüttert, wie schlecht gemachtes Essen z. B. bei Tripadvisor bewertet wird. Vieles alles ist „super“ oder „lecker“ (ich hasse dieses Wort), fast immer hat es den Leuten gut geschmeckt. Oder es wird sich über Nebensächlichkeiten beschwert. Eine einigermaßen fundierte Kritik ist nur selten zu lesen.
    Meine fast tägliche Soap ist „Das perfekte Dinner“. Diese Sendung bildet das Kochniveau der Deutschen gut ab, wobei die Teilnehmer sich ja noch für gute Köche halten. Sicher, es gibt auch Teilnehmer, die im Rahmen von Hobbyköchen gut oder einigermaßen gut und ambitioniert kochen. Aber es ist erschütternd, wie immer wieder betont wird, dass man z.B. Wild noch nie gegessen hat oder kein Kalb/Lamm isst (Babytiere) oder lobt, dass Lamm nicht nach Lamm geschmeckt hat. In einer Runde mit Teilnehmern auf niedrigem Niveau hat ein besser Kochender niemals eine Chance, weil die Leute das Niveau nicht wahrnehmen und nur auf ihrem Kochniveau urteilen (können).

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