Als es die bürgerliche Welt mit ihren zuweilen vielleicht etwas übertriebenen Anstandsregeln noch gab, machte sich Gerhard Polt in einem Sketch über das „Hotelfrühstück“ lustig . Eine distinguiert aussehende Familie (ab Minute 22:10) unterhält sich am Frühstückstisch nur im Flüsterton, um ja niemanden zu stören. Auch die Bestellung wird pianissimo aufgegeben, woraufhin die Bedienung zuerst nicht versteht, in normaler Laustärke nachfragt und dann laut in die Küche ruft: „Ein Orangensaft und ein weiches Ei“, was die anfänglichen Bemühungen, nicht aufzufallen, natürlich ad absurdum führt.
Heutzutage mutet eine solche Zurückhaltung völlig weltfremd an. Warum, soll hier in mehreren Episoden dargestellt werden. Erstes Kapitel: Herbsturlaub zu zweit mit Hund in Südtirol. Klingt spießig, ist es auch, aber schön, theoretisch. Am ersten Abend Einkehr im Gutsausschank eines Weingutes. Als wir uns gerade der Vorspeise zuwenden – Burata di bufala mit Ochsenaugen-Carpaccio (Tomaten schmecken in Italien immer besser als hierzulande, wahrscheinlich weil sie reifer geerntet werden) –, besetzt eine vierköpfige Familie, ebenfalls aus Deutschland, direkt neben uns den letzten freien Tisch. Als der Vater an mir vorübergeht, blickt er mir ins Gesicht und sagt: „Jetzt wird’s laut!“ Scherz? Drohung? Letzteres, wie sich bald herausstellen soll.
Die Buben, offenbar Zwillinge im Alter von drei, vier Jahren, leiden, wie viele Kinder heute, an einem Hyperaktivitätssyndrom. Oder sie sind nur schlecht erzogen. Oder beides. Jedenfalls piesacken sie ihre Eltern vom ersten Augenblick an. Die Alten versuchen, ihre Brut mit einem Elektronikspiel zumindest vorübergehend abzulenken. Es handelt sich um ein Spielfeld mit Symbolen, die mit Hilfe eines länglichen, stiftähnlichen Geräts gescannt werden können. Wenn die Kinder über eine Kuh fahren, muht es, wenn es sich um ein Feuerwehrauto handelt, macht es Tatütata. Zur Burrata hätte besser die Kuh gepasst. Doch die Kinder bevorzugen das Feuerwehrauto.
Wenn kleine Kinder um Aufmerksamkeit heischen, ob akustisch, gestisch oder, im Extremfall, olfaktorisch, wird zwangsläufig die ganze Umgebung mit einbezogen. Das ist evolutionär so gewollt, denn Kinder sind schwach und bedürfen des Schutzes. Wenn sie schreien oder sich anderweitig bemerkbar machen, heißt das: Alarm! In diesem Fall: Daueralarm, denn das monotone Spiel verliert rasch an Attraktivität, worauf die Buben beginnen, wieder den Vater und sich gegenseitig zu ärgern, aufzustehen und herumzulaufen. Die dargebotene Nahrung, ich glaube Schnitzel mit Pommes, der übliche „Kinderteller“, wird nach wenigen Bissen verschmäht. Auch die Eltern kommen nicht zum Essen, weil sie dauernd einen der Buben von der Terrasse nach drinnen führen, wahrscheinlich zur Toilette. Ständiges Kommen und Gehen, Zurechtweisungen, Widerworte, Quengeln, Geschrei.
Die Mutter versucht, ihren Mann zu zügeln
Irgendwann beim Hauptgericht, einem Tiroler Gröstl, reißt mir der Geduldsfaden. Ich fordere den Vater in scharfem Ton auf, doch bitte endlich für etwas Ruhe zu sorgen. „Haben Sie Kinder?“, fragt er mich, was ich wahrheitsgemäß verneine. Dann hält er mir einen Vortrag des Inhalts, dass ich als Kinderloser kein Recht auf Ruhe beim Essen an einem öffentlichen Ort habe und ja die Terrasse verlassen und im Gastraum weiter essen könne. Diese Unverschämtheit lasse ich nicht auf mir sitzen, es kommt zu einem heftigen Wortgefecht mit Schmähungen gegen meine Person, die ich nicht zitieren will. Die Mutter versucht, ihren Mann zu zügeln, vergeblich. Ehe es zu Handgreiflichkeiten kommt, treten wir den Rückzug an und verlassen das Wirtshaus. Der höchst unerfreuliche Zwischenfall überschattet den ganzen Urlaub. Südtirol ist für uns bis auf weiteres gestorben.
Zwei Monate später abendliches Diner in einem Gourmetrestaurant im Elsass. Ein Michelinstern, dazu ein grüner Stern für „Nachhaltigkeit“. Lockere Atmosphäre, casual fine dining, heißt das heute. Wir sind früh dran, noch sind nicht alle Tische besetzt. Gegen acht Uhr betritt eine größere Gesellschaft den schönen Gastraum mit offenem Dachgebälk, offenbar Einheimische, und wird an einem großen Tisch neben uns platziert, darunter ein junges Ehepaar mit Kleinkind. Der Kellner schleppt sofort einen Kinderstuhl heran, wenig später wird dem Winzling ein riesiger Teller vor die Nase gesetzt. Großes Hallo, Handyfotos. In Erinnerung an Südtirol erwarte ich wieder das Schlimmste. Zunächst bleibt das Baby brav sitzen und stochert still in seinem Essen herum. Bald jedoch wird es unruhig, schließlich geht es auf neun Uhr, eine Zeit, zu der Kinder in vergangenen Zeiten längst selig in ihrem Bettchen schlummerten. Doch heutzutage beanspruchen Eltern uneingeschränkte Teilhabe am sozialen Leben, wozu vor allem abendliche Restaurantbesuche zählen. In Oper, Konzert und Theater hat sich das Mitführen von Kleinkindern noch nicht durchgesetzt, was aber nur eine Frage der Zeit sein dürfte.
Im Gegensatz zu Südtirol sind die Eltern in diesem Fall redlich bemüht, den infantilen Impact auf die anderen Gäste so gering wie möglich zu halten. Mit mäßigem Erfolg, wobei schon die gute Absicht positiv gewürdigt werden soll. Abermals ständiges Hinein- und Hinaustragen oder -fahren – für das Baby war ein Kinderwagen in den Gastraum gerollt worden. Manchmal ist von Mutter oder Vater samt Sprössling zwanzig Minuten lang nichts zu sehen, während die Speisen, die man hier in kurzem Takt serviert, auf dem Tisch herumstehen und kalt werden. Ich frage mich, warum sich die Erziehungsberechtigten nicht um einen Babysitter bemüht haben. Aber vielleicht steht ja in modernen Erziehungsratgebern, dass Babysitting schlecht für die frühkindliche Entwicklung sei, genauso schlecht wie die absolut verpönten Laufställe.
Irgendwann wird das Baby im Kinderwagen platziert und mit einem Tuch zugedeckt, wie man es mit plappernden Papageien oder kreischenden Beos im Vogelkäfig macht, um denselben Nacht und damit Schlafenszeit vorzugaukeln. Vater und Mutter essen noch schnell den eigenen und den Kinderteller leer. Dann ist das Kind endlich eingeschlafen und die Menüfolge beendet, woraufhin die Gesellschaft den Saal verlässt. Schade um das teure Essen, denke ich mir, das man in Ruhe und mit allen Sinnen genießen sollte, wozu auch wir nur ansatzweise kamen, weil man sich unweigerlich mit dem Geschehen am Nachbartisch zu befassen hatte.
Hunde waren in diesem Restaurant verboten
Dritte und letzte Episode aus einer vielerorts zum antiautoritären Kinderladen mutierten Gastronomie: Ein Fischrestaurant am oberbayerischen Chiemsee. Wir bestellen gerade gebackenen Zander mit Rahmwirsing zum stolzen Preis von knapp dreißig Euro pro Person, als eine junge Familie am Nachbartisch Platz nimmt – Vater, Mutter (mit Migrationshintergrund), zwei kleine Kinder, von denen eines wohl gerade erst laufen gelernt hat. Es gelingt uns noch gerade, an einen etwas weiter entfernten Tisch auszuweichen, als sich der übliche Zirkus zu entfalten beginnt und eigentlich privates Familienleben gnadenlos in aller Öffentlichkeit ausgebreitet wird.
Moderner Rollenverteilung gemäß, darf die Mutter in Ruhe essen, während der Vater um die Kinder bemüht ist, Buntstifte und Malpapier verteilt, Kinderessen bestellt, Münder abwischt, Pommes, Stifte und Servietten vom Boden aufsammelt, nebenbei hastig die eigene Mahlzeit bewältigt. Am Ende, wir wenden uns gerade dem Nachtisch zu, wird nebenan noch der verwüstete Tisch vorbildlich aufgeräumt, sogar die Kissen auf der Sitzbank werden wieder in Form gebracht. Das ist rührend anzusehen, obwohl man der kostenlosen Kindervorstellung eine gepflegte Unterhaltung zum gepflegten Essen vorgezogen hätte. Hunde waren in diesem Restaurant verboten, was ich, selbst Hundehalter, vollauf begrüße, weil zwei, drei kampflustige Rüden in enger Nachbarschaft schwer in Schach zu halten sind. Über ein Kleinkinderverbot in der Gastronomie sollte man nachdenken.
Postskriptum: In Dierhagen an der Ostsee hatten es die Wirte des „Schipperhus“ gewagt, „aufgrund vieler unschöner Ereignisse in der Vergangenheit“, Kindern bis zwölf Jahren den Eintritt ins Restaurant zu verweigern. Das große Problem seien nicht die Kinder, sondern die Eltern, sagte die Wirtin, selbst vierfache Mutter. „Es gibt nur noch wenige, die sich wirklich um die Erziehung ihrer Kinder bemühen. Die meisten saßen hier und guckten ins Telefon, während ihre Kinder schreiend durchs Lokal rannten.“ Daraufhin wurden sie und ihr Mann als Kinderhasser und Rassisten beschimpft. Der ihr entgegenschlagende Hass gehe an die Substanz, klagte sie schon damals. Wenn man heute im Schipperhus anruft, läuft ein Band: „Das Restaurant ist bis auf weiteres geschlossen.“
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Wir wohnen nicht nur in Frankreich, wir verbringen auch dort unseren Urlaub – und noch nie sind uns dort Kinder unangenehm aufgefallen, schon gar nicht in Sternerestaurants, in denen Eltern – sofern sie den Nachwuchs dabei haben – diesen immer so trainiert haben, dass sie in Ruhe bei Tisch essen können. Unser Sohn hat als Kind erst gefuttert, dann in Ruhe gemalt, später gelesen. Faule Eltern begreifen nicht, dass eine gute und konsequente Erziehung sich vor allem für sie selbst auszahlt, weil sie mit den Kindern ohne Stress überall hingehen können.