Königsberger Klopse

von | Nov 20, 2022 | Altbewährt | 0 Kommentare

„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Der berühmte Satz des preußischen Philosophen Immanuel Kant ist so aktuell wie lange nicht, scheint doch der europäische Kontinent wieder einmal in geistige Finsternis versunken zu sein und längst einer neuen „Aufklärung“ bedürftig. Kant stammte aus Königsberg in Ostpreußen, wo er sein ganzes Leben als Philosoph und Hochschullehrer verbrachte, wo er 1804 auch starb und heute noch sein Denkmal steht.

Doch die Stadt gibt es nicht mehr. Sie wurde im Krieg fast völlig zerstört, Reste bedeutender Bauwerke wie des trutzigen Deutschordensschlosses abgetragen. Das alte Königsberg heißt jetzt, nach einem Sowjetfunktionär, Kaliningrad und fungiert als Provinzhauptstadt des gleichnamigen russischen „Oblast“, der nach seiner Annexion durch die früherer Sowjetunion aus dem nordöstlichen Drittel des früheren Ostpreußen gebildet wurde und seit dem Beitritt der Baltischen Staaten zur Europäischen Union keine Verbindung mehr zum russischen Mutterland besitzt. Eine Art Niemandsland, ein etwas trauriges, vergessenes Stück Europas, das wohl noch einige Zeit seiner Wiederauferstehung harren muss.

Dabei war Königsberg, Keimzelle des Königreiches Preußen, über Jahrhunderte eine der größten und prosperierendsten Städte des Deutschen Reiches. Vor allem in der Zwischenkriegszeit, als Ostpreußen nur über den polnischen „Korridor“ erreichbar war, blühte die Stadt auf, dank einer der späteren westdeutschen „Zonenrandförderung“ vergleichbaren Unterstützung durch die Berliner Reichsregierung.  Königsberg hatte einen den ersten Verkehrsflughäfen der Welt, einen wichtigen Ostseehafen, eine bedeutende Messe und ein avantgardistisches Opernhaus. Im heutigen Oblast Kaliningrad stand auch Schloss Friedrichstein, wo ZEIT-Mitgründerin Marion Gräfin Dönhoff und Buchautorin („Namen, die keiner mehr nennt.“) zur Welt kam, und das Preußische Hauptgestüt Trakehnen, Heimat der gleichnamigen Pferderasse.  

Fast nichts von alledem ist übrig geblieben. Und der ehrwürdige Name der Stadt hat nur in zwei kulinarischen Spezialitäten überlebt, dem köstlichen, geflämmten Königsberger Marzipan und den Königsberger Klopsen, feinen Kalbfleischbällchen in einer pikanten, sauren Soße. Letztere stehen unter latentem Revanchismusverdacht. Wer für sie schwärmt, könnte verdächtigt werden, die russische Exklave vielleicht doch wieder heim ins diesmal europäische Reich führen zu wollen. Dabei können Königsberger Klopse durchaus als fortschrittliche Kreation im Geiste der Multikulturalität gelten, sind doch mediterrane Kapern und Sardellen (Anchovis) notwendige Bestandteile der Rezeptur.

Meine Mutter verstand sich gut auf die Zubereitung von Königsberger Klopsen. Der in kulinarischen Fragen äußerst kritische Vater – von den Kochkünste seiner Frau hielt er gemeinhin nicht besonders viel – lobte ihre ostpreußisch inspirierten Fleischbällchen mit der im Familienkreis überlieferten Sentenz: „Königsberger Klopse, die kann se.“ Wenn ich mich recht entsinne, verwandte meine Mutter allerdings kein Kalbshack, sondern das billigere Rinder- oder Schweinehack. Und die weiße Soße dazu band sie mit einer gehörigen Portion Mehl oder Speisestärke, was Puristen der Nouvelle Cuisine, natürlich auf die Palme getrieben hätte. Aber wir Kinder und offensichtlich auch mein Vater aßen ihre Klopse gerne, zu denen Reis, Salzkartoffeln und wohl auch Rote Beete gereicht wurden. Es ist ein Gericht, das süß und sauer auf eine unaufdringliche Art miteinander in Einklang bringt und zudem gut aufgewärmt werden kann.

Angeblich soll kein Geringerer als Immanuel Kant das in Ostpreußen schlicht „Soßklops“ oder „Saure Klops“ genannte Gericht  in ganz Deutschland hoffähig gemacht haben. Der Gelehrte habe seinen Gästen öfters die Hackbällchen servieren lassen und sie dadurch popularisiert. Der Wahrheit näherkommen dürfte die Erklärung, wonach Haushaltshilfen aus den Ostgebieten des Reiches, die legendären „Mamsellen“, das Gericht in die Metropolen mitnahmen und es auf diese Weise zu einer Art Nationalspeise wurde. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchte das Gericht immer wieder auf Speisekarten von Berliner Restaurants auf.

Als kulinarischer Richtungsweiser seiner Zeit nennt das „Universal-Lexikon der Kochkunst“ von 1886 ein Rezept für „preußische oder Königsberger Klopps“. Die Klöße aus gehacktem Rind- und Schweinefleisch werden direkt in einer hellen, mit Wein, Essig, Sardellen, Kapern und feinem Senf abgelöschten Einbrenne gekocht. Auch „Klopps mit Hering oder Sardellen“  werden in dem Buch genannt, die in einer mit Zitrone und Kapern verfeinerten und leicht eingedickten Brühe garen. Ob man Salzhering oder die feineren Anchovis unter das Fleisch mischt, war seinerzeit eher eine Frage des Geldbeutels als des Geschmacks. Im ländlichen Masuren – die früher im Süden Ostpreußens gelegene Seenlandschaft gehört heute zu Polen – komme noch immer Hering ins Hack, fand der Filmautor Jörg Teuscher heraus.

Ob Kalb-, Rind- oder Schweinefleisch – auch darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. „Traditionell wurde Kalbfleisch verwendet, ersatzweise Kalb- und Schweinefleisch“, so Teuscher. Rindfleisch hält Alfons Schuhbeck für „etwas sperrig“. In der ZDF-Kochshow Küchenschlacht präsentierte er im März 2020 ein Rezept, bei dem er die Klößchen, natürlich aus Kalbshack, zuerst in einem unter anderem mit Ingwer aromatisierten Geflügelfonds-Sud ziehen lässt, den er mit Sahne verfeinert und mit Speisestärke bindet.

Ein wunderbares Klopse-Rezept hat auch Wolfram Siebeck für sein ZEIT-Sommerseminar  aufgeschrieben. Es stammte vom Chefkoch des Berliner Gourmettempel Margaux, Michael Hoffmann, einem Pionier des Vegetarismus in der Spitzengastronomie. 2014 schloss er sein Restaurant, das Siebeck einmal als „avantgardistischste Küche der Hauptstadt“ bezeichnet hatte. Die weiße Soße funktioniert hier ganz ohne Mehlschwitze, die Siebeck, nicht ganz zu recht, konsequent auf den Index gesetzt hatte. Aber meines Erachtens spricht auch nichts gegen eine Einbrenne. Jeder sollte sich seines eigenen Verstandes (und Geschmacks) bedienen, um das richtige herauszufinden. So geht Aufklärung!

Foto: Pixabay

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