Nocken, Tupfer, Beeren – Stiefkind Patisserie

von | Apr 28, 2023 | Aufmacher | 0 Kommentare

Eigentlich sollte ein Dessert der krönende Abschluss einer Speisenfolge sein. Ein effektvoller Rausschmeißer, der noch Genuss und Gaumenkitzel bereitet, wenn man eigentlich schon keine rechte Lust mehr hat. Doch meist herrscht auf der süßen Seite, auch in der gehobenen Gastronomie, bare Einfallslosigkeit: ein, zwei Nocken Sahneeis und/oder Sorbet, eine Mousse, wahlweise von dunkler oder weißer Schokolade, dazu einige Tupfen Fruchtsoße und Beeren als Deko, nicht zu vergessen das obligatorische Minzeblatt.

Von der ungeheuren Vielfalt süßer Verführungen, wie man sie noch in einschlägigen Kochbüchern bewundern kann, ist selbst in Sterne- und Haubenrestaurants nicht mehr viel übriggeblieben. Das ist einerseits wohl dem Schlankheitswahn zu verdanken und der Tatsache, dass viele Menschen heute zwar gut essen, dabei aber, Gott bewahre, kein Gramm zunehmen möchten. Am ehesten ist man dann, so scheint es, bereit, auf ein üppiges Dessert zu verzichten.

Andererseits wohl auch der Interessenlosigkeit  der Köche, bei denen die Patisserie nicht sehr beliebt ist. Ein junger Sternekoch sagte mir jüngst, dass man sich mit Süßspeisen keine Meriten verdienen könne. Das Metier sei nicht allzu kreativ, die Rezepturen festgelegt, ein Biskuit bleibe immer ein Biskuit. Auch Restauranttester legen ihr Hauptaugenmerk meist auf den Fisch und Fleischgang, wo sich die Kreativität der Küchenchefs auszutoben pflegt.

Dann wird also fix ein Sorbet bereitet oder eine Mouse angerührt, geht schnell, gelingt immer, lässt sich gut aufheben und muss abends nur noch portioniert werden. Einen eigenen Patissier, der mit Herz und Können bei der Sache ist, können sich überdies nur die wenigsten leisten. Und wenn die Kunden  ohnehin keinen besonderen Wert darauf legen, geschenkt. Die Patisserie ist zum Stiefkind der Sterne- und Haubengastronomie herabgesunken, ein mehr oder weniger lästiges Anhängsel. Wenn überhaupt, ziselieren die Köche noch irgendwelche Mini-Maccarons oder Pralinen zum abschließenden Espresso, die wieder vornehmlich auf Instagram-Kompatibilität abgestimmt sind.

So drohen sie auszusterben, die wunderbaren Crèmes auf Basis einer englischen Crème, etwa eine Bavaroise, die köstlichen Flammeris mit Gries oder Reis mit zuweien klangvollen Namen („Riz à l’ impératrice“) , die Grützen und Gelees, die Kompotte und Fruchtsalate, die Aufläufe und Soufflés, die süßen Omlette und Pfannkuchen, von komplexeren Desserts wie einer Charlotte sowie den dazu gehörigen Frucht- und Rahmsoßen ganz zu schwiegen. Selbst ein einfacher Schokoladen- oder Vanillepudding, selbstverständlich nicht von Dr. Oetker, muss heute als seltene Trouvaille gelten. Und die köstlichen Tartes, die die Franzosen oft noch zum Dessert servieren, sind in Deutschland gar nicht erst angekommen. Dabei lässt eine vergleichsweise simple Tarte Tatin, meisterlich gebacken, jede Sorbetnocke blass aussehen.

Das alles gilt mit Einschränkungen auch für die oft weniger komplexen, aber im Idealfall sehr wohlschmeckenden italienische Desserts wie Tiramisu oder Panna cotta, die zumindest noch in gehobenen italienischen Restaurants auf akzeptablem Genussniveau geführt werden. Ganz übel sieht es dagegen in deutschen Gasthöfen aus. Im Süden gibt’s manchmal einen gut gebackenen Apfel- oder Quarkstrudel oder (in hoffentlich frischem Fett herausgebackene) Apfelküchle. Ansonsten muss man mit Lagneseeis Vorlieb nehmen.

Doch wo sind sie, die französischen Klassiker? Baba au rhum? Îles flottantes? Dame blanche? Pfirsich Melba? Seit Jahren nicht mehr gegessen. Birne Helene? Fehlanzeige! Dabei kann dieses einfache Dessert eine Köstlichkeit sein, wenn es nicht mit Birnen aus der Dose und Schokoladensoße aus der Tüte zubereitet wird. Warum ist eigentlich heute so gut wie niemand mehr bereit, meisterhafte Rezepte auf höchstem handwerklichen Niveau nachzukochen? Aus Eitelkeit? Weil die Damen und Herren Restauranttester dafür keine Sterne und Hauben herausrücken? Muss eigentlich das Rad jeden Tag neu erfunden werden?

Eine ganze Kultur göttlichen Überflusses droht auf diese Weise, den Bach herunterzugehen. Dabei kann man geneigt sein, für ein Assortiment meisterhaft komponierter Desserts alles Vorherige stehenzulassen. Ich denke da an den berühmten Chariot de desserts bei Paul Bocuse in Collonges-au- Mont-d’Or, wo die große französische Patisserie-Tradition einstweilen noch hochgehalten wird. Und ich erinnere mich mit äußerstem Wohlgefallen an die flambierten, mit einer Himbeercreme gefüllten Crepes, die mir im Restaurant Aux armes de France im elsässischen Ammershwir serviert wurden, als die einst legendäre Adresse schon nicht mehr ganz auf der Höhe war. Ein Dessert, das eigentlich hätte unter Denkmalschutz gestellt werden müssen, so köstlich war es. Gibt’s wahrscheinlich auch nicht mehr.

Foto: Pixabay

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