Rehabilitiert die Mehlschwitze!

von | Sep 7, 2022 | Aufmacher | 0 Kommentare

Der alte, weiße Mann der Kochkunst ist die Mehlschwitze, auch Einbrenne genannt oder, schöner, weil französisch, Roux. Je nachdem, ob man sie kürzer oder länger röstet, ergibt sich eine helle (blanc), blonde (blond) oder braune (brun) Einbrenne, immer handelt es sich um die schlichte Mischung aus Butter und etwa der gleichen Menge Mehl. Einbrennen dienen dazu, Saucen zu binden. Dafür werden sie mit Milch, Wasser, Brühe oder einem Fonds genannten Auszug aus Fleisch- oder Fischresten und Knochen oder Gräten aufgegossen, eingekocht und mit vielerlei weiteren Zutaten veredelt. Die im Mehl enthaltene Stärke lässt die Flüssigkeit nach kurzem Aufkochen dicklich und samtig werden.

So einfach, so gut. Doch die Mehlschwitze ist längst der Cancel Cuisine anheimgefallen. Es war keineswegs Paul Bocuse, der Schöpfer der „neuen Küche“ (die eigentlich eine sehr traditionelle war, nur mit frischen Produkten), sondern hierzulande vor allem Wolfram Siebeck, der eine Fatwa über sie verhängte. Keiner konnte so wortmächtig gegen die mittels einer Einbrenne oder der Zugabe von Kartoffelstärke entstandenen „Soße“ vulgo „Tunke“ zu Felde ziehen wie der einstige „Fresspapst“.

„Die Soße ist die Tunke ist die Soße. Für immer aneinander geleimt, um Angst und Schrecken über die Welt der Feinschmecker zu bringen, bescheren sie uns einen dicken braunen Sumpf, in dem der Ruf unserer Gastronomie ertrunken ist und immer wieder neu ertrinkt“, dekretierte er in seinem „Kochseminar“. Im gleichen Höllenkreis verortete Siebeck den englischen Bratensaft („gravy“): Ihr Horror bestehe „in der unendlichen Langeweile, die sie verbreitet, mag ihr auch die elende braune Mehlschwitze fehlen.“

Modernisierer, Internationalisten und Schlankheitsapostel

Außer in der Bäckerei hatte Mehl nach Siebecks unwiderruflicher Ansicht nichts in der Küche zu suchen, mit Ausnahme vielleicht einer ganz leichten Mehlierung von Fisch vor dem Braten. Saucen, die ihren Namen verdienten, entstünden aus Knochenfonds vermittels stundenlangen Einkochens, selbst wenn die Hausfrau oder der Hausmann in den dicken Dampfschwaden, die dem Kessel mit der zu reduzierenden Flüssigkeit entweichen, den Kochlöffel nicht mehr findet. Daneben gab es für den Gastrokritiker, zumindest in der warmen Küche, nur Saucen, die ihre sämige Konsistenz emulgiertem Eigelb verdanken, wie eine Sauce Hollandaise oder Béarnaise oder eine mit Butter auf Zwiebelessenzbasis aufgeschlagene Beurre blanc.

Mit seinen brillant formulierten Rundumschlägen gelang es Siebeck, die Mehlschwitze ebenso gründlich wie nachhaltig zu desavouieren. Dass er und die von ihm gerühmten Protagonisten einer modernen, leichten Küche damit der reichhaltigsten Saucenkultur der Welt, der klassisch-französischen, den Garaus machte, war gewissermaßen der Kollateralschaden der „nouvelle cuisine“ genannten Küchenrevolution, wonach ein Festessen alles sein durfte (und darf), nur nicht sättigend. In den Sternerestaurants von heute gibt es Saucen meist nur in homöopathischen Dosen, als kleine, mittels einer Einwegspritze applizierte Kleckse streng reduzierten Fonds, als federleichte Joghurt-Dips, winzige Pestospritzer oder haarfeine Linien von, igitt, Buttersauce, Hollandaise oder allerlei bekömmlichen Fruchtsaucen.

Selbst in Frankreich ist die einstige Saucenkultur weitgehend eine Sache von vorgestern. Einen Abglanz von ihr findet man vielleicht noch bei Paul Bocuse in Lyon, wenngleich der Verlust des dritten Michelin-Sterns nach dem Tod des Meisters zu der Befürchtung Anlass gibt, dass alsbald der vielleicht auch letzte Tempel der klassischen Küche den Modernisierern, Internationalisten und Schlankheitsaposteln zum Opfer fällt. Wie gesagt, Bocuse gilt zwar als Schöpfer der „nouvelle cuisine“, doch mikroskopische Portionen und der weitgehende Verzicht auf Butter und Sahne als unentbehrliche Geschmackträger waren seine Sache nicht. Das erledigten dann seine Jünger und Jüngersjünger, die sich gleichwohl immer noch gerne auf ihn beriefen. Am Ende galt Bocuse als reaktionärer Küchenpapst, völlig aus der Zeit gefallen und mit seiner notorischen Vielweiberei auch moralisch diskreditiert.

Eine Sauce mathematisch aus der anderen ableiten

Zum Glück jedoch gibt es den „Bocuse“, das „Kochkunstbuch vom König der Köche“, 1976 erschienen und ein Jahr später auch auf Deutsch erhältlich. Dort findet man ihn noch, den französischen Saucenhimmel, in den natürlich auch die Mehlschwitze gehört. „Die ausgefeilte Vielfalt der Saucen ist der fundamentale Reichtum der französischen Küche. Die Bedeutung dieses Schlüsselkapitels wird unseren Lesern kaum entgehen.“ Dann breitet der Großmeister auf zwölf Seiten diese Vielfalt aus, von Jus und Fonds über Würzbrühen („courts bouillons“) die verschiedenen Einbrennen und Grundsaucen, die „kleinen“ braunen und weißen Saucen bis zu den mit Ei und Butter aufgeschlagenen Saucen („sauce riches“), kalte Saucen und Marinaden.

Dabei ergibt sich eines aus dem anderen, eine Sauce lässt sich beinahe mathematisch aus der anderen ableiten. „Durch einfache Nuancierung“, schreibt Jean-Paul Aron, Berater des legendären französischen Kulturministers Jack Lang, in seinem amüsanten Buch „Der Club der Bäuche“ über die Esskultur im Paris des 19. Jahrhunderts, „geht eine Sauce aus der anderen hervor. Die Kunst der Saucenzubereitung ähnelt dem Spiel mit den russischen Puppen: Jede enthält eine zweite und dieser wiederum eine dritte; das Ganze bläht sich von innen her auf, um die gesamt Kochkunst immer dichter und dichter zu umgeben.“

Unverzichtbare Ausgangsbasis sind die „großen Saucen“ oder Grundsaucen („sauce mères“). So entsteht aus brauner Einbrenne durch den Zusatz von Aromaten, Wein und Kalbsfonds die „Spanische Sauce“, die sich durch weitere Reduzierung und Zugabe eines Schusses Madeira in eine Demi glace verwandelt. Aus beiden lässt sich nach Hinzufügen weiteren Madeiras und Champignons eine Sauce madère zaubern, die wiederum durch Zugabe schwarzer Trüffel eine Sauce Périgeux ergibt, die den berühmten „Tournedos Rossini“ – ein unwiderstehlicher Turm von Rindermedaillons und gebratener Gänseleber – den letzten, gehaltvollen Pfiff verleiht.

Den ersten Akt nicht auf die leichte Schulter nehmen

Eine weitere Basissauce ist die Béchamel, für die eine helle Einbrenne mit Milch oder anderen Flüssigkeiten aufgekocht wird. Aus ihr leiten sich etwa eine Sauce Soubise genannte pikante Zwiebelsauce ab, die mit Krebsbutter versetzte Sauce Nantua, unverzichtbare Beigabe von gleichfalls aus der Mode gekommenen Hechtklößchen, sowie die mit Käse verfeinerte Sauce Mornay, die sich hervorragend zum Gratinieren eignet, etwa von „Hummer Thermidor“.

Mit Mehl gebundene Saucen haben den Vorteil, dass sie sehr stabil sind und nicht gerinnen, wie eine zu stark erhitzte Hollandaise oder eine fehlerhaft aufgeschlagene Mayonnaise. Das sollte sie eigentlich für Hobbyköche besonders attraktiv machen, wäre da nicht das bis heute von vielen Gourmets beinahe sklavisch befolgte Verdikt des Wolfram Siebeck. Natürlich hatte der eloquente Kritiker recht, wenn er jene Hausfrauen der Wirtschaftswunderzeit verfluchte, die eine dünne Brühe durch Zugabe mehrerer Esslöffel in Wasser angerührter Maizena-Stärke zu kleistriger Pampe rührten, die den Namen Sauce nun wirklich nicht verdiente. Doch was spricht dagegen, auch mal eine feine Béchamelsauce statt einer heiklen Hollandaise zum Spargel zu reichen, oder jungen Lauch mit einer pikanten Sauce-Mornay zu überbacken. Und auch Béchamel-Kartoffeln als Beigabe zu gekochtem Rindfleisch sind eine feine Sache.

Dabei sollte man den ersten Akt, die Bereitung der Roux, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Bocuse widmet den verschiedenen Einbrennen in seinem großformatigen Kochbuch eine ganze Seite, wobei er besonderen Wert darauf legt, die Butter-Mehl-Mischung lange genug und vor allem langsam zu garen, damit die im Mehl enthaltenen Stärken fermentieren können und sich das wasserlösliche Dextrin bildet, das für die spätere Bindung der Saucen verantwortlich ist. Und nach dem Angießen mit Flüssigkeit, Milch, Fonds, Brühe empfiehlt der Meister, die Sauce mindestens zwanzig Minuten oder besser noch länger – bis zu zwei Stunden – köcheln zu lassen, damit „jeglicher Mehlgeschmack verschwindet“. Es kommt eben weniger darauf an, ob man etwas macht, sondern wie man es macht. Dann können auch alte, weiße Mehlschwitzen auf einmal wieder ziemlich jung aussehen.

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