Als Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor Monatsfrist ein Messerverbot in Bussen und Bahnen zum Vorschlag brachte, dachte ich spontan, das wäre vielleicht keine so schlechte Idee. Nicht, weil man auf diese Weise Attentate auf arglose Reisende verhindern könnte, sondern weil man damit eine Spezies nachhaltig in die Schranken weisen könnte, die imstande ist, (nicht nur) mir die Benutzung von Bus und Bahn nachhaltig zu.
Es geht um das einen Imbiss oder eine Mahlzeit zu sich nehmende oder anderen enervierenden Verrichtungen zugewandte Reise-Visavis. Wenn künftig die Mitnahme von Obst-, Frühstücks- oder Taschenmessern in Beförderungsmitteln insbesondere der Deutschen Bahn und kommunaler Verkehrsbetriebe untersagt wären, entfiele damit auch im Wesentlichen die Einnahme einer Mahlzeit im rollenden Betrieb, eine der größten Zumutungen, seit Menschen das Essen und Reisen entdeckt haben.
Ein Individuum, man könnte auch sagen einen Zustand, den der Wiener Kaffeehausliterat und Feuilletonist Anton Kuh (1890-1941) folgendermaßen charakterisierte: „Das ist er! Achtung! Wir fahren ein Stück der Lebensstrecke mit ihm, sechs, acht oder vierzehn Stunden lang, und er wird sich die ganze Zeit über nicht aus unserem Aug‘ lassen, so wie er es sofort verstand, uns an sein kompaktes, reisebereites, in allen nötigen Bestandteilen vorhandenes Ich zu fesseln“.
Von jener Spezies, die Kuh pointiert als „Koffer seiner selbst“ beschreibt, gibt es hinsichtlich des Aspektes der Nahrungsaufnahme im Wesentlichen zwei Ausprägungen. Die erste war zu Kuhs Zeiten noch unbekannt, es handelt sich um vornehmlich jüngere Menschen, die sich auf dem Bahnsteig, aus dem Bordrestaurant oder vom geräuschvoll durch den Gang geschubsten Trolley direkt im Zug mit Ess- und Trinkbarem versorgen.
Bei ihnen besteht die Einnahme einer Mahlzeit vor allem darin, etwas auszupacken: Schoko- oder Energieriegel etwa, allerlei frische Beeren in der Klarsichtbox oder Sandwiches, die so fest in ihren Plastikhüllen eingeschweißt sind wie die Passagiere in ihren durch Raum und Zeit dahinjagenden Wagen mit selbst im Katastrophenfall undurchdringlichen Panoramafenstern – aus denen man leider auch nichts mehr herauswerfen kann wie noch zu Kuhs Zeiten, als sich sein hassgeliebtes Gegenüber auf diese Weise einer Handvoll Orangenkerne entledigte.
Für den unfreiwilligen Beobachter noch peinigender als die nur mit schwerem Gerät zu bewältigende Öffnung einer Sandwichbox ist der Genuss mitgebrachter warmer Speisen coram publico, etwa asiatischer Nudelgerichte, einer Portion Pommes Frites oder eine Pizza, deren Gerüche sich in der Hermetik eines Großraumwaggons oder, schlimmer noch, Zugabteils, weitaus länger halten als die Ausdünstungen gerade von ihrer Schale befreiter hartgekochter Eier oder eines gut chambrierten Leberwurstbrotes. Auch hier könnte ein Messer-, besser noch kombiniert mit einem Gabel- und Löffelverbot Wunder wirken.
Ich habe übrigens noch nie verstanden, warum hart gekochte Eier seit Anton Kuhs Zeiten, weiterhin notwendiger Bestandteil des Reiseproviants sind, wo es doch längst delikatere Ergebnisse versprechende Formen der Konservierung gibt. Durch viel zu langes Kochen denaturiertes Eiweiß ist nicht nur staubtrocken, sondern es schmeckt auch unangenehm muffig. Allenfalls kann man daraus Russische Eier herstellen, indem man das Eigelb aus den Eierhälften herauslöst, mit Senf, Mayonnaise und gehackten Cornichons zu einer Paste verrührt und damit die Eierhälften füllt. Leider lassen sich russische Eier infolge ihrer instabilen, halbrunden Form schwer transportieren, als Reiseverpflegung sind sie ungeeignet.
Damit wären wir bei der zweiten Ausformung des mit der Nahrungsaufnahme befassten Reise-Visavis angelangt. Es handelt sich dabei um Menschen, die sich nicht spontanen Fast-Food-Verlockungen hingeben, sondern schon zu Hause alle nötigen Vorkehrungen getroffen haben, um während einer längeren Zugfahrt nicht zu verhungern und allfällige Beobachter zur Weißglut zu bringen.
Wenn man ihnen gegenübersitzt, etwa an einem der unbedingt zu meidenden Tischplätze im ICE-Großraumwagen, passiert erst einmal längere Zeit nichts. Doch irgendwann bemächtigt sich unseres Gegenübers eine Unruhe, die auf ein aufkommendes Hungergefühl schließen lässt, gepaart mit einem Anfall von Langeweile. Dann wird der Rucksack oder die Tasche vom Nebensitz oder aus der Gepäckablage geholt, werden geräuschvoll Reisverschlüsse, Klettverschlüsse und Schnallen geöffnet und verschiedene Dinge für das bevorstehende Festmahl ans Tageslicht gefördert und auf dem Tisch platziert.
Eine Tupperdose mit, oh weh, hartgekochten Eiern in der Schale, eine Butterbrotdose aus umweltfreundlichem Blech mit einer, sagen wir mal, Käse, Salat sowie Gurkenscheiben gesund belegten Stulle. Das „vielfach belegte Brot“ reizt den Beobachter, lassen wir noch einmal Anton Kuh zu Wort kommen, „nicht so sehr als Zeichen der Wohlhabenheit denn der kulinarischen Voraussicht“. Zu letzterer gehört auch eine ökologisch vorteilhafte, weil wiederverwendbare Aluflasche, aus der Tee in die Verschlusskappe geschüttet und in provozierend kleinen Schlucken getrunken wird, vorzugsweise Hagebutte, Kräutertees und ähnliches.
Für alles ist Vorsorge getroffen: Salz und Pfeffer fürs hartgekochte Ei, die Schalen verbleiben in der Tupperbox – zur Entsorgung in der häuslichen Biotonne. Die Apfelstücke sind im günstigen Fall schon geschält und werden, leicht bräunlich, aus einer weiteren Blech- oder Plastikdose gefischt. Eine Serviette liegt bereit, in der die Schalen einer Orange säuberlich eingewickelt werden, die zuvor mittels eines Taschenmessers enthäutet und mundgerecht zerteilt wurde. Dabei legt sich stechender Zitrusgeruch über die Nachbarschaft, der sich wenig appetitlich mit dem Geruch geschälter Eier verbindet. Aber immer noch besser als die Ausdünstungen einer verbrannten Pizza.
Manchmal überrascht einen das Reise-Visavis auch mit einem Hand geschnippeltem Obstsalat oder einer modischen Bowel, die mit einem vollständigen Reisebesteck direkt aus dem betreffenden Transportgefäß genossen wird. Zum Nachtisch gibt’s manchmal ein Becherchen Jogurt oder ein form- und fristgerecht am Tag zuvor angesetztes Bichermüsli. Für Anton Kuh war es übrigens weniger die Nahrungsaufnahme selbst, die den nicht essende Beobachter zum Wahnsinn trieb, als „diese stumme Rastlosigkeit in der Aneinanderreihung von Handlungen, die keinen anderen Zweck verfolgen als zu beweisen, dass nichts vergessen ward“.
Am Ende des Mahles wird alles säuberlich weggeräumt, verstaut und der Tisch abgewischt. Schließlich will unser Gegenüber niemandem auf die Nerven fallen. Dann tritt eine Zeitlang Ruhe ein, bis sich wieder das Hungergefühl meldet und die Langeweile.
Wie zu lesen ist, gibt es bei der Deutschen Bahn AG „praktisch“ schon eine Art von Messerverbot in den Beförderungsbedingungen. Demnach sind “von der Mitnahme als Handgepäck oder Traglast” ausgeschlossen auch “Gegenstände”, die geeignet seien, “Mitreisende zu stören oder zu verletzen.” Hartgekochte Eier und Mitreisende zählen nicht dazu.
Foto: Pixabay
0 Kommentare