Die Zeiten sind noch gar nicht so lange her, da war die Speisekarte eines durchschnittlichen deutschen Gasthofs so vorhersehbar wie der Einbruch der Dunkelheit zu vorgerückter Stunde: Jägerschnitzel, Paprikaschnitzel, Zigeunerschnitzel, Rahmschnitzel, Schnitzel natur, Wiener Schnitzel, wahlweise mit Pommes frites oder Pommes frites. Beim näheren Hinsehen gestaltete sich die Auswahl sogar noch überschaubarer, weil die bräunliche Grundsauce zu den ersten drei Varianten immer die gleiche war, nämlich die aus der Plastiktrommel mit dem Aufdruck „Knorr“ oder „Maggi“. Je nach Garnitur wurde sie mit Dosenchampignons, bunten Paprikaschnitzeln oder in Salzlache schwimmenden Perlzwiebelchen aus dem Glas angereichert. Und fast immer handelte es sich beim Fleisch um ein minderwertiges Schweineschnitzel aus Qualzucht.
Dass die Epoche dieser Art prekärer Systemgastronomie vielerorts, wenn auch nicht überall, Vergangenheit ist, kann man als Segen betrachten, wobei selbst dem bösartigsten Gastwirt bei der Zubereitung eines Zigeunerschnitzels in den seltensten Fällen in den Sinn gekommen wäre, die betreffende Volksgruppe rassistisch zu beleidigen. Was stattdessen zuverlässig beleidigt wurde, waren die Geschmacksnerven seiner Gäste. Insofern ist der Untergang DIESES Zigeunerschnitzels ein zivilisatorischer Fortschritt und als solcher vorbehaltlos zu begrüßen.
„Es kommt immer darauf an, wie man es sagt“
Doch den Anhängern der Cancel Culture und Political Correctness, die nach dem „Mohr im Hemd“, einer zwar sättigenden, aber ansonsten eher harmlosen österreichischen Süßspeise, dem Negerkuss sowie dem „Eskimoeis“ auch das Zigeunerschnitzel auf den Index der unsagbaren Worte gesetzt haben, ging es ja niemals um gutes oder schlechtes Essen oder Vergangenheitsbewältigung, sondern ums Rechthaben. Ihnen kam nie in den Sinn, dass für viele Menschen das Wort „Zigeuner“ positiv besetzt ist. Man liebt den „Zigeunerbaron“, die gleichnamige Operette von Johann Strauss (Sohn), schwärmt für den von der „Zigeunermusik“ inspirierten Jazz eines Django Reinhard, man träumt vielleicht vom „lustigen Zigeunerleben“, verkleidet sich im Karneval als „Carmen“-Verschnitt, gießt sich ohne großes Nachdenken eine scharfe „Zigeunersoße“ übers Grillfleisch – und gelegentlich ärgert man sich über die „herumzigeunernden“, vornehmlich niederländischen Wohnwagenbesitzer, die die Autobahnen verstopfen.
Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte des „fahrenden Volkes“ der Sinti und Roma beschäftigt, die, vor 600 Jahren wohl aus Indien kommend, nach Europa einwanderten, sieht man sich mit notabene – scharfen – Gegensätzen konfrontiert. Angst und Anziehung bestimmten seit alters her das Verhältnis zwischen den nomadisierenden Immigranten und der sesshaften Ortsbevölkerung. Einerseits wurde das Leben der in ihren Wohnwägen „heimatlos“ herumziehenden Fremdlinge mit ihrer exotisch wirkenden Kultur romantisch verklärt, denn sie lebten ein „wildes“, unabhängiges Leben und nahmen eine Freiheit in Anspruch, die sich manch einer ersehnt haben mag. Andererseits fürchtete und verachtete man die mehr oder weniger Besitzlosen mit ihrer unverständlichen Sprache, die vom Handel lebten, als Musiker und Handwerker ihren kärglichen Lebensunterhalt verdienten, aber auch von Bettelei und Diebstahl. Analog zur Geschichte des jüdischen Volkes gab es Phasen der Toleranz und der Verfolgung mit dem schrecklichen Höhepunkt der Ermordung von schätzungsweise einer halben Million Sinti und Roma durch die Nazis im besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges.
Die Frage ist, was das alles mit dem Zigeunerschnitzel zu tun hat. Die Antwort lautet: gar nichts! Der Begriff „nach Zigeunerart“ oder französisch „à la zingara“ ist, wie der des Mohren und Eskimos, ein historisch-kultureller Begriff und durchaus verschieden von dem N-Wort, über dessen Gebrauch gerade mal wieder unsere famose Bundeskanzlerin in spe, Annalena Baerbock, gestolpert ist. Das N-Wort war schon immer als Beleidigung gedacht, beim Z-Wort ist das weniger eindeutig. „Es kommt immer darauf an, wie man es sagt oder in welchem Zusammenhang es geschrieben wird“, schreibt mir der Spitzenkoch Vincent Klink vom Stuttgarter Restaurant „Wielandshöhe“. „Wer nur schlechte Gedanken in seinem Schädel beherbergt, sollte das Z-Wort aus seinem Hirn verbannen.“ Dem stimme ich zu.
„Ist appetithemmend und kann Depressionen hervorrufen“
Den kulinarischen Terminus „nach Zigeunerart“ gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert und findet sich in vielen Kochbüchern und kulinarischen Abhandlungen. Das ursprüngliche Zigeunerschnitzel, dessen Rezept ich am Schluss dieses Artikels präsentieren möchte, war ein Produkt der Hochküche und ähnelt in nichts den Vulgärvarianten späterer Epochen. Man kombinierte nämlich ein Kalbschnitzel mit (roter) Zunge, (schwarzen) Trüffeln (!) und grünem wie rotem Paprika, eine Garnitur, die angeblich an die Tracht spanischer Zigeuner erinnern sollte, die durch Georges Bizets Oper „Carmen“, uraufgeführt 1875, populär wurde.
Das bis heute stilprägende Zigeuner-Stereotyp, die ungarische Zigeuner-Romantik mit Csárdás, Ziehbrunnen und Paprika, geht auf die Zeit des österreichisch-ungarischen Ausgleichs zurück und mündete schließlich in den breiten und trägen Strom der Zigeunersoßen, die, mehr oder weniger scharf gewürzt, die Schnitzelteller überfluteten und von der Industrie für den Hausgebrauch adaptiert wurden. Wobei Wolfram Siebeck wie immer zuzustimmen ist, wenn er sagt, dass die gängigen Rezepte mit den Essgewohnheiten der Zigeuner so wenig zu tun hätten „wie Winnetou mit den Apachen“. Der Großmeister der Fresskritik machte zwar um alles, was auch nur entfernt mit Zigeunerschnitzel hätte zu tun haben können, einen großen Bogen, stieß sich aber nicht an dem Begriff, sondern geißelte die politische Korrektheit als „Ascheregen“, der sich über die Begriffe gelegt habe. „Was ehemals farbenprächtig und putzlebig erschien, musste plötzlich Gipsbeine tragen mit der Aufschrift: Enthält gut gemeinte Absichten, ist appetithemmend und kann Depressionen hervorrufen.“
Die Firma Knorr indes hielt es für angebracht, sich vergangenes Jahr im Zuge der Black Lives Matter-Proteste von ihrer „Zigeunersauce“ zu verabschieden. Das Zeug heißt jetzt „Paprikasauce Ungarische Art“ und schmeckt so grauslich wie eh und je. Immerhin lobte der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma laut Presseberichten die Entscheidung des Unternehmens. „Es ist gut, dass Knorr hier auf die Beschwerden offenbar vieler Menschen reagiert“, sagte der Vorsitzende Romani Rose. Für den Zentralrat sei vor dem Hintergrund eines von ihm konstatierten wachsenden Rassismus die Diskussion um Zigeunerschnitzel und Zigeunersauce jedoch „nicht von oberster Dringlichkeit“. Viel wichtiger sei es, Begriffe wie „Zigeuner“ kontextabhängig zu bewerten, etwa wenn in Fußballstadien „Zigeuner“ oder „Jude“ mit offen beleidigender Absicht skandiert würden.
Womit wir wieder beim Beginn unserer kleinen Erörterung wären. Es macht eben doch einen Unterschied, ob man im Gasthaus ein Zigeunerschnitzel bestellt oder einen mutmaßlichen Angehörigen der Volksgruppe der Roma und Sinti als „dreckigen Zigeuner“ beschimpft. Heino stellt die berechtigte Frage, ob Deutschland nicht andere Probleme habe, als Zigeunersoße umzubenennen. „Soll ich jetzt ,Lustig ist das Paprikaleben ungarische Art‘ singen?“, meinte der Schlagersänger einer Pressemeldung zufolge und fügte selbstbewusst hinzu: „Im Restaurant werde ich auch weiterhin mein Zigeunerschnitzel bestellen.“
Hoffentlich sitzt Heino im richtigen Restaurant, denn die braune Tunke mit Dosenpaprika an Qualfleisch gehört wirklich auf den Index, jedenfalls den kulinarischen.
Lesen Sie auch meine Gastro-Kolumne Cancel Cuisine auf der Achse des Guten!
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