Die nordhessische Großstadt Kassel ist nicht gerade als Mekka der Gourmets bekannt. Doch darben muss man in „Hessisch Sibirien“ beileibe nicht, vor allem, wenn man Deftigeres bevorzugt. Wie die berühmte Ahle Wurst, eine traditionsreiche, luftgetrocknete Wurstspezialität, die in den vergangenen Jahren im Zuge des Regionalhypes ihre Wiederauferstehung erlebt hat.
In der Kasseler Markthalle, einer der schönsten des Landes, gibt es sie in allen Altersstufen. Ich bevorzuge Ahle Wurst, wenn sie so hart ist, dass man sie als wirkungsvolle Hiebwaffe verwenden könnte. Nicht umsonst heißt eine Variante Herkuleskeule. Sie wird, anders als die längliche „Stracke“ nicht in Schweinedärme gefüllt, sondern in Kälberblasen, was eine Keulen ähnliche Form ergibt. Und das über dem berühmten Bergpark Wilhelmshöhe thronende Denkmal des Herkules ist bekanntlich das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt.
Die Kasseler Markthalle liegt in jenem Bereich des Stadtzentrums, der von der im Krieg völlig zerstörten Kasseler Altstadt übriggeblieben ist. In dem bis heute etwas provisorisch wirkenden Konglomerat von zuweilen ärmlich aussehenden und leider etwas heruntergekommenen Wohn- und Geschäftshäusern der 50er bis 70er Jahre wirkt die Halle wie eine architektonische Oase, obwohl auch sie streng genommen ein Neubau ist. Sie entstand von 1962 bis 1966 auf den Grundmauern des von Bomben zerstörten ehemaligen Kasseler Marstalles und zitiert die rustikale Bruchsteinfassade des Vorgängerbaus. Das Marktgeschehen spielt sich auf drei Ebenen ab, dazu kommt an manchen Tagen ein Freiluft-Wochenmarkt auf einer angrenzenden Freifläche.
Vor allem samstags trifft sich hier „tout Kassel“, um sich mit dem einzudecken, was nicht zuletzt die weitläufigen nordhessischen Wälder an Essbarem bereithalten. Natürlich Wild, das die im Untergeschoss angesiedelten Metzgereien stets schussfrisch bereithalten. Auch die nordhessischen Wurstspezialitäten sind nicht zu verachten. Neben der bereits erwähnten Ahlen Wurst gibt es geräucherte Blut- und Leberwurst und weißen oder roten Presssack. Zusammen mit etwas Senf und einem guten Bauernbrot, etwa von der vorzüglichen Biobäckerei Brotgarten, kann man damit eine gehaltvolle Brotzeit gestalten.
Auch Weckewerk gibt es hier, eine in Nordhessen und dem Thüringer Eichsfeld beheimatete Spezialität aus Kalbskopf, Schwarten und fettem Fleisch, die mit Kesselbrühe zu einer gräulich aussehenden Masse verkocht wird. Sieht gewöhnungsbedürftig aus, schmeckt aber recht gut, wenn man als Kontrast zu der Fettbombe sauer eingelegte Gurken und Schmand (Saure Sahne) nebst Pellkartoffeln serviert. Der frühere Kasseler Oberbürgermeister und SPD-Politiker Philipp Scheidemann, der im November 1918 vom Balkon des Berliner Reichstagsgebäudes die Deutsche Republik ausrief, mochte Weckewerk am liebsten fast angebrannt. Diese Zubereitungsform wird angeblich bis heute „nach Bürgermeisterart“ genannt.
Wer es vegetarischer mag, kommt in der Markthalle mit ihren diversen Obst- und Gemüseständen natürlich auch auf seine Kosten. Dazu kommen mehrere Bäckereien, ein Fischstand, ein gut sortierter Käsestand, eine Weinhandlung, eine Kaffeerösterei, etwas Ethnofood sowie ein Stand mit allerlei vom und rund ums Ei. Besonders lecker sind die Marmeladen, die Samstag vor dem Eingang zur Markthalle verkauft werden. Die Früchte dafür stammen zum Teil aus der bedeutenden Obstanbauregion um Witzenhausen an der Werra, einem Zufluss der Weser, auch als „Kirschenland“ bekannt. Honig in allen Varianten aus den nordhessischen Wäldern und Feldern darf nicht fehlen.
Das Schöne an der Kasseler Markthalle ist ihr unprätentiöser Gesamteindruck. Das ist kein Tummelplatz für Schickimickis, sondern in seinen Grundzügen immer noch ein recht ursprünglicher Bauern- und Lebensmittelhandwerkermarkt, ergänzt mit etwas Gastronomie. Und weil Nordhessen nie eine reiche Gegend war und bis heute nicht ist, sind die Preise moderat. Schon aus diesem Grund lohnt sich ein Abstecher von der Autobahn A7, einer der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen, oder der ins Ruhrgebiet führenden A44.
Glücklicherweise wurden gerade umfassende Umbaupläne für die Markthalle auf Eis gelegt. Um ein jüngeres Publikum anzuziehen, sollte der ebenerdige Bereich der Halle in eine Art Eventarena für Musik- und Theaterdarbietungen umgebaut werden. Manche alt eingesessenen Händler strichen bereits die Segel, doch scheint der Exodus vorerst abgewendet zu sein. Bleibt zu hoffen, dass nicht auch die Kasseler Markthalle zu einem Beispiel wird, wie man, im ewigen Bemühen jünger und hipper zu erscheinen, eine doch offenbar gut funktionierende Tradition elegant abwürgen kann.
Öffnungszeiten Markthalle: Do. + Fr. 7.00 bis 18.00 Uhr, Sa. 7.00 bis 14.00 Uhr
Öffnungszeiten Wochenmarkt: Do. 7.00 bis 13.00 Uhr, Sa. 7.00 bis 14.00 Uhr
Foto: Pixabay
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