Kulinarische Kriegspropaganda

von | Aug 11, 2022 | Aufmacher | 0 Kommentare

Was den Deutschen ihr Pichelsteiner ist den Groß-, Klein- und Weißrussen der Borschtsch. Bei beiden Traditionsgerichten ihrer jeweiligen Völkerschaften handelt es sich um einen Eintopf aus Fleisch und Gemüse, der mal mehr zur Suppe (Borschtsch), mal mehr zum Eintopf (Pichelsteiner) tendiert. Dabei ist Pichelsteiner Eintopf ein Gericht der gutbürgerlichen, Borschtsch eines der bäuerlichen Küche. Ein Borschtsch ist herzhaft, sättigend, preiswert und mit dem obligatorischen Klacks saurer Sahne sogar säuerlich-erfrischend. Eine Speise, die sommers wie winters schmeckt. Übrigens ist auch das Pichelsteiner kein typisches Winteressen: mitten im Hochsommer, immer Ende Juli/Anfang August, feiert die Stadt Regen im Bayerischen Wald ihr Pichelsteinerfest, eines der größten Volksfeste Niederbayerns. Pichelsteinerfest Regen

Aber hier soll es um den Borschtsch gehen. Wobei es DEN Borschtsch eigentlich nicht gibt, sondern viele Ausprägungen desselben, je nach Region und dem jeweiligen Einfallsreichtum der Köche. Ohne eine Grundzutat funktioniert Borschtsch allerdings nicht: rote Beete. Rote Bete: Zubereitung und Wissenswertes – [ESSEN UND TRINKEN] (essen-und-trinken.de) Hierzulande ist rote Beete eine eher unterschätzte Zutat von Salattellern, wie sie typischerweise in Gasthöfen verabreicht werden und meist eine kulinarische Katastrophe darstellen. Neben geschmackarmen Perlzwiebeln, Karottenschnipseln und Maiskörnern ist auch die dekorativ geraffelte rote Beete fast nie frisch zubereitet, sondern stammt aus der Konserve. Leider ist das Schälen der intensiv färbenden roten Beete eine Herausforderung, die eigentlich nur mit Corona-Ganzkörperschutzanzug zu bewältigen ist. Deshalb greifen auch Profiköche gerne zu Vorgekochtem.  

Für einen echten Borschtsch MUSS die rote Beete frisch verarbeitet werden, sonst sollte man lieber ein Pichelsteiner kochen, bei dem Karotten die Beete ersetzen. Daneben braucht man für einen Borschtsch „Moskauer Art“ Weißkohl, Tomaten, Zwiebeln, allerlei Gewürze, Rinderbrühe, Weinessig und frisch geschnittene Petersilie oder Dill sowie natürlich saure Sahne als – neudeutsch – Topping. Dann noch diverses Fleisch als Einlage: Rinderbrust, vielleicht gewürfelter Kochschinken und, so steht es in einem meiner Lieblingskochbücher mit dem Titel „Die Küche aus Russland“ (Time Life, 1971) in Scheiben geschnittene Frankfurter Würstchen (!).

Achtung: jetzt wird’s politisch. Denn es gibt auch einen Ukrainischen Borschtsch, wobei die Kleinrussen vulgo Ukrainer fest daran glauben, diese Speise erfunden zu haben. Vielleicht stimmt das sogar, denn Kiew stand bekanntlich schon, als Moskau noch eine Siedlung mitten im Wald war. Doch ich zitiere aus meinem Russland-Kochbuch: „Man kann die Frage, wer nun wirklich den ersten – oder besten – Borschtsch für sich in Anspruch nehmen darf, gar nicht klären, denn es gibt heute mehr Arten als man zählen oder gar probieren kann.“ Im Allgemeinen unterscheide sich der ukrainische vom russischen Borschtsch dadurch, dass er Tomaten, neben Rindfleisch auch Schweinefleisch und mehr Gemüsesorten, darunter auch Knoblauch, enthält.

Wobei sich das Buch insofern selbst widerspricht, als auch das dort abgedruckte Rezept für Borschtsch „Moskauer Art“ Tomaten verlangt, wenn auch nicht so viele. Und die Zutatenliste für die „Rote-Beete-Suppe auf ukrainische Art“ ein paar Seiten weiter enthält noch Knollensellerie, Petersilienwurzeln, Pastinaken und Kartoffeln. Mir scheint, dass die Zugabe von Knoblauch, die an die südlichere Herkunft der ukrainischen Variante erinnert, das wichtigste geschmackliche Unterscheidungsmerkmal darstellt. Aber, wie gesagt, die Borschtsch-Vielfalt ist praktisch unbegrenzt. Es gibt Borschtsch mit Pilzen, „Borschtschok“ mit wenig anderen Gemüse als roter Beete, Poltawa-Borschtsch mit Geflügel…

Wenn jetzt die UNESCO im Schnellverfahren dem Antrag der Ukraine zugestimmt und ukrainischen  Borschtsch in die Liste des erhaltungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes aufgenommen hat Browse the Lists of Intangible Cultural Heritage and the Register of good safeguarding practices – intangible heritage – Culture Sector – UNESCO, gibt es dafür wohl keinen anderen Grund, als den russischen Angreifern auch auf kulinarischem Gebiet einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Der Ukrainekrieg ist längst ein totaler Krieg, in dem nicht nur an der militärischen Front gekämpft wird, sondern auch an der wirtschaftlichen und kulturellen. Vermutlich geht die Initiative auf den ukrainischen Koch Ievgen Klopotenko zurück, der laut Süddeutscher Zeitung als „ukrainischer Jamie Oliver“ gilt. Klopotenko sieht sich selbst als „Krieger am Küchenmesser“ und behauptet von sich, er habe noch nie ein russisches Gericht gekocht und werde nie eines kochen. Make borscht not war: from fine dining to feeding the front line – Slow Food International

Im ukrainischen Nominierungsdossier UNESCO erklärt Borschtsch-Zubereitung zum Immateriellen Kulturerbe | Deutsche UNESCO-Kommission heißt es, dass Borschtsch als „Symbol der ukrainischen Küche“ gelte. Durch Russlands Krieg gegen das Land sei der Erhalt dieser traditionellen Kulturtechnik bedroht. „Zudem führen die Kämpfe zu Umweltschäden und gefährden die landwirtschaftliche Grundlage der Kochkunst“. Dass der Borschtsch in irgendeiner Weise bedroht sein könnte, halte ich, mit Verlaub, für Unsinn. Mir ist jedenfalls noch nicht zu Ohren gekommen, dass Putins Truppen jetzt auch der roten Beete den Krieg erklärt haben, wobei Plünderungen und Versorgungsengpässe aller Art leider zu den unvermeidbaren Folgen jeder kriegerischen Auseinandersetzung zählen. Eher schon könnte der Moskauer Borschtsch bedroht sein, weil infolge der Sanktionen dort bestimmt keine Frankfurter Würstchen mehr zu haben sind. Mich wundert die Entscheidung der UNESCO auch deswegen, weil bislang eher allgemeine gastronomische oder kulinarische Praktiken und damit verbunden Rituale unter Schutz gestellt wurden. Noch nicht einmal das berühmte Coq au vin Coq au Vin – Wikipedia, Klassiker der französischen Küche schlechthin, schaffte es in die Liste. Dafür wurde 2010 die allgemeine Struktur des französischen Gastmahls („gastronomic meal“) als soziale Praxis zur Feier besonderer Ereignisse zum Welterbes erhoben, bestehend aus Aperitiv, Vorspeisen und Hauptgängen, Käse, Dessert und Digestiv. Traditionen: Französische Küche zum Weltkulturerbe ernannt | ZEIT ONLINE Von einzelnen Speisen ist dabei keine Rede. Jetzt dürften sich die Anträge mehren, allerlei Kochrezepte in die Liste aufzunehmen. Ich schlage für Deutschland schon mal das Pichelsteiner vor.

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