Welche Küche ist die Beste? Würden man die Franzosen dazu befragen, würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine überwältigende Mehrheit von, sagen wir, 95 Prozent antworten: Unsere natürlich! Wenig anders würde die Antwort ausfallen, würde man sie den Italienern stellen. Unsere natürlich! Ähnlich wohl die Chinesen, Japaner und Inder, die ihrerseits über ausgeprägte Nationalküchen und ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein verfügen.
Bei uns Deutschen, denen jedes Heimatgefühl ausgetrieben wurde, liegt der Fall anders. Hier würde man als Antwort auf die zu Eingang gestellte Frage wohl die Replik erhalten: Ich esse, was mir schmeckt! Und was schmeckt den Deutschen? Pizza und Pasta, Döner, die als Berliner Spezialität gepriesene Currywurst und Wiener Schnitzel rangieren in Befragungen regelmäßig an erster Stelle.
Ein buntes Allerlei also der Küchen dieser Welt, das dem entspricht, was in den Tiefkühltruhen der Supermärkte im Kälteschlaf dämmert, die Bringdienste an der Haustür abwerfen und Straßen deutscher Städte und Dörfer säumt: Italiener, Asiaten, Döner- und Frittenbuden und ab und zu noch ein gutbürgerliches, deutsches Gasthaus leider nicht selten minderer Qualität. Das Mantra offener Grenzen beherrscht längst auch die deutsche Esskultur.
Doch was ist nun die beste Küche der Welt? Ich selbst komme bei dieser Frage ins Grübeln, wobei ich zugegebenermaßen mit asiatischen Küchen noch keine direkten Erfahrungen in den jeweiligen Ländern gemacht habe und das, was hierzulande etwa unter chinesischer Küche läuft, mit dem Original wenig zu tun haben dürfte.
Um wirklich in die Esskultur einer Nation eintauchen zu können, bedarf es unbedingt gewisser Kenntnisse von Sprache und Landeskultur. Also beschränke ich mich auf meine Erfahrungen mit europäischen Küchen. Und da würde ich, zumindest aktuell, der italienischen Küche den Vorzug geben. Gerade durfte ich mich wieder einmal auf sehr bereichernde Weise mit der Esskultur unseres mediterranen Sehnsuchtslandes befassen, anlässlich eines Aufenthalts in einem Kurhotel am Rande der Euganeischen Hügeln bei Padua mit ihren seit altersher bekannten heißen Quellen und Schlammbädern. Halbpension, wobei das italienische Frühstück mit blassen Panini und oft extrem süßen, gefüllten Cornetti kaum der Rede wert ist. Hier dürften die Deutschen mit ihrer Brotkultur die Nase vorn haben.
Immer kurz nach 19.30 Uhr begann sich der große Speisesaal langsam zu füllen. Zwischen den kleinen Tischen für Einzelpersonen oder Paare und den längeren Tafeln für italienische Großfamilien schwirrte ein knappes Dutzend, wie man so sagt, dienstbarer Geister umher, wobei es die Metapher der „Geister“ insofern nicht trifft, als die streng nach der Rangfolge der klassischen Hotellerie gegliederte Equipe – vom Auszubildenden bis hinauf zum Maitre d’Hotel – keineswegs unsichtbar umhergeistert. Denn dieser Saal ist ihr Herrschaftsbereich, ihre Bühne, auf der sie jeden Abend aufs Neue einen großen Auftritt haben.
Im egalitären Nachkriegsdeutschland mit seiner ausgeprägten Abneigung gegen Hierarchien ist man geneigt, das Servicepersonal eines Hotels oder Restaurants zu bedauern. Sich bedienen zu lassen, wird oft als unschicklich empfunden – kein Wunder, dass sich kaum mehr jemand für diesen Beruf begeistern möchte. Dabei sind die dienstbeflissenen Damen und Herren unseres italienischen Kurhotels alles andere als Domestiken, sondern Gastgeber im ureigenen Sinn.
Wenn das Spiel der fein austarierten Hierarchie funktioniert, wird niemand länger als ein paar Minuten auf Ansprache und Befriedigung seiner Bedürfnisse warten müssen. Dabei ist, man weilt schließlich im Land der Oper, großes Theater garantiert. Unvergesslich, wie der Maitre d’hotel eine Gruppe älterer, auf Gesundheit und Maß bedachter Damen mit allen Finessen südländischer Überredungskunst dafür zu gewinnen versucht, sich statt frischer Früchte doch lieber ein Stück jenes opulenten Schokoladenkuchens zu genehmigen, der zum Dessert gereicht wurde. Ganz nach dem Motto: Das schönste an der Versuchung ist es, ihr nachzugeben.
Und darin unterscheiden sich schon mal die italienische und auch die französische Küche ganz wesentlich von der deutschen: die vielgängigen Speisefolgen in beiden Esskulturen fügen sich zusammen mit der Form ihrer Darreichung zu einem Zeremoniell, demgegenüber man sich hierzulande oft mit einem einzigen, voluminösen Gang zufrieden gibt. Und der muss möglichst im Expresstempo serviert und vertilgt werden.
Während sich im Ritual italienischer und französischer Menüs auch höfisch-aristokratische Traditionen spiegeln, katholisch grundiert, entspricht der von den Deutschen beschrittene Weg effizienter Nahrungsaufnahme eher dem „Ideal“ bürgerlich-protestantischer Genussfeindlichkeit, wobei das Wort „Ideal“ hier in Anführungszeichen gesetzt sein soll.
In Italien besteht ein Menü im Regelfall aus Antipasto, Primo, Secondo, gefolgt von Dolci, einem Dessert und dem obligatorischen Espresso, vielleicht noch einem Grappa als Magenputzer. Die Antipasti, Vorspeisen, sind oft salat- bzw. gemüselastig und naturbelassen, wobei das Vitello tonnato, kaltes Kalbfleisch mit Thunfischcreme, vielleicht die berühmteste italienische Vorspeise, nicht unterschlagen werden soll. Als Primo, dem (warmen) ersten Gang gibt es dann Pasta mit unterschiedlichen Saucen oder mit Käse überbacken, auch Risotti und Suppen wie die allseits bekannte Minestrone.
Dieser Gang bildet die sättigende Basis für das Secondo, einem gerillten oder geschmorten Stück Fleisch oder Fisch, begleitet von Beilagen, wobei es sich meist nicht um die in Deutschland beliebten Sättigungsbeilagen handelt, sondern wiederum um verschiedene, geschmorte Gemüse, darunter auch Patate, Kartoffeln, die zu den Gemüsen zählen. Satt ist man ja eigentlich schon.
Schwer zu sagen, warum in Italien Salat immer besser schmeckt als zu Hause. Ist er einfach frischer? Liegts an dem perfekt komponierten Säurespiel der hausgemachten Vinaigrette? Oder ereilt einen in dem von mir erwähnten Hotel das gleiche Phänomen wie bei jenen „Urlaubsweinen“, die auf toskanischem Terracottaboden bestens munden, als Urlaubsmitbringsel jedoch enttäuschen? Eigentlich könnte man sich nach einer Schüssel dieses genialen Grünzeugs oder einem schlichten, in Olivenöl gebratenem Radicchio trevisano, schon rundum zufrieden auf sein Zimmer zurückziehen.
Das Geheimnis einer guten Hotelküche ist, dass sie auf jene Extravaganzen verzichten muss, mit denen sich sogenannte Gourmet-Restaurants zu profilieren versuchen. Denn hier müssen immer viele Geschmäcker zu ihrem Recht kommen. Außerdem können es sich Hotelköche auch aus Rentabilitätsgründen nicht leisten, wild herumzuexperimentieren und müssen auf bewährte Rezepturen zurückgreifen. Das hat unter anderem zur Folge, dass man hier eine Nationalküche gewissermaßen im Urzustand entdecken kann.
Das gilt im Prinzip auch für Frankreich, wobei die Unterschiede zwischen einer Landküche und der in Sternerestaurants servierten Hochküche größer sind als in Italien. Ein typisches französisches Menü besteht aus Entreé, Hauptgang (Plat), Käse und Dessert. Auf Gourmetniveau gesellen sich dazu noch ein oder mehrere Amuse bouches, oft eine warme UND eine kalte Vorspeise, sodann ein Fisch UND ein Fleischgang, manchmal vor dem Hauptdessert noch ein Predessert und ganz zum Schluss, zu Kaffee und Digestif, ein Petits Fours oder Konfekt.
Ganz allgemein wird in der französischen Küche das Produkt in Bezug auf Geschmack und Textur stärker manipuliert, woran auch die Reformbemühungen der Nouvelle Cuisine wenig geändert haben. Komplizierte Saucen als verbindendes Element spielen in Frankreich eine wesentlich größere Rolle als in Italien, wo man sich oft mit einem mit etwas Wein verfeinerten Bratensaft zufrieden gibt.
Auch optisch sind französische Gerichte raffinierter gestaltet als in Italien, man denke nur an den berühmten Wolfsbarsch im wie ein Fisch mit seinen Schuppen ziselierten Teigmantel bei Paul Bocuse. Wobei zugegebenermaßen italienische Torten wie eine Cassata oder eine Eisbombe in Bezug auf ihre die Geschmacksnerven stimulierende Ästhetik auch nicht zu unterschätzen sind.
Worin liegt nun die spezielle Attraktivität der italienischen Küche? Antwort: In ihrer relativen Einfachheit, nicht nur der Zubereitung, sondern auch einem unbedingten Respekt vor dem unverfälschten Eigengeschmack der Zutaten.
In der italienischen Küche bleiben grüne Bohnen, Spinat oder Erbsen wie sie sind, höchstens werden sie in ein wenig Olivenöl geschwenkt, während sie französische Köche gerne zu Pürees, Gratins oder Schäumen verarbeiten.
Auch kunstvolle Pasteten, in denen sich die ganze Pracht französischer Kochkunst spiegeln, sind in der italienischen Küche kaum bekannt. Bei der unter Tierschützer umstrittenen Foie gras setzt der Manipulationsprozess schon beim lebenden, man kann auch sagen, leidenden Tier selbst an.
Dann unterscheiden sich die beiden führenden Küchen Europas natürlich in der Auswahl der Zutaten. Mehr noch als Frankreich ist Italien eine mediterrane Kultur mit den Leitingredienzien Fisch, Gemüse, Reis, Wein und Olivenöl. Nicht zu vergessen Pasta, die auch deswegen erfunden wurden, weil sie in heißem Klima lange haltbar sind. In der ländlichen Küche Frankreichs, zum Teil auch in der Hochküche spielen Kartoffeln eine größere Rolle, etwa in Form eines gehaltvollen Gratin daupinois, im Elsass auch das in Italien weitgehend ungebräuchliche Sauerkraut.
Halten wir fest: Die italienische Küche ist in ihrer Substanz eine Armeleuteküche geblieben, eine „cucina povera“, verfeinert in den Kreisen der städtischen Aristokratie. Eine eigene Hochküche haben die Italiener nicht ausgebildet. Wenn man trotzdem von einer italienischen Hochküche sprechen wollte, handelt es sich eigentlich um französische Küche mit mediterranem Einschlag auf Basis italienischer Produkte.
Die französische Hochküche dagegen ist wesentlich komplexer und ausgefeilter als die Landküche, wie sie in Bistros und Hotels serviert wird. Und sie geizt nicht mit teuren Produkten wie Austern, Hummer, Kaviar und Gänsestopfleber. Schließlich waren es die im Zuge der Französischen Revolution arbeitslos gewordenen Köche an den Höfen der Aristokratie, die den Siegeszug der „Grande cuisine“ auch im Bürgertum begründeten. Während in Italien die häusliche Kochkunst einer echten „Mamma“ das Maß aller Dinge ist.
In Zeiten wie heute, in denen nicht zuletzt aus Gründen ökologischer Nachhaltigkeit „Einfachheit“ und Naturbelassenheit en vogue ist, gewinnt die italienische Küche noch einmal an Attraktivität. Und was einfach ist, lässt sich auch problemlos selbst zubereiten. Für einen schmackhaften Tomatensugo braucht es keine Kochausbildung, nur ein wenig Hingabe. Und gute Pasta bekommt man mittlerweile in fast jedem Supermarkt, sogar frisch.
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Für uns gibt es eine Form von Paradies: italienisch kochen/essen in Fronkraisch.
Denn italienische Küche in Italien hat einen klitzekleinen Nachteil.
Ausserhalb der Mittags- oder Abendspeise gibt es noch das Frühstück oder das zwischendurch-etwas-vom-Brot-abbrechen-und-etwas-drauf-tun. Die richtigen Örtlichkeiten für Backwaren befinden sind nun mal in F.
Auch wenn es gibt mittlerweile durchaus den einen oder anderen guten Kopisten in I (oder auch in D) gibt, eine französische Boulangerie ist die andere Form von Paradies.