Keine Angst vor Stinkekäse!

von | Jan 9, 2023 | Aufmacher | 0 Kommentare

Viele Deutsche mögen es gerne mild. Oder, um genau zu sein, sie bevorzugen Produkte meist tierischer Herkunft – Fleisch, Geflügel, Fisch oder Käse – die nicht oder nur schwach nach dem schmecken, nach dem sie schmecken könnten. Das ist beileibe nicht verwerflich, zeugt jedoch zumindest von einer gewissen Trägheit, was die Entdeckung neuer und vielleicht unerwarteter Geschmäcker anbelangt.

Ein bekanntes Beispiel ist die Hähnchenbrust, ein oft ziemlich fades Produkt, das seinen Ursprung im Hühnerstall kaum erahnen lässt. In die gleiche Kategorie fällt das ebenfalls recht neutral schmeckende Kalbfleisch. Die drolligen Kulleraugen der Kälbchen kann man bei Anblick und Genuss eines Stückes Fleisch glatt vergessen – das soll oder will man vielleicht auch.

Wenn Meeresgetier auf den Teller kommt, dann ist das oft ein nur schwach „fischelndes“  Rotbarschfilet, meist paniert und in Remouladensauce ertränkt. Hammel, Lamm oder Wild meiden viele Deutsche ganz allgemein, wohl wegen des angeblich zu strengen Geruchs und Geschmacks. Dabei wird heute Wild so jung geschossen, dass sein Geschmack mit dem „haut gout“ vergangener Zeiten nichts mehr gemeinsam hat. Junges Wildschwein kann man von Rind oft nur schwer unterscheiden. 

Schließlich wäre da noch der Käse,  womit wir beim Thema dieser Erörterungen angelangt sind. Käse darf auf deutschen Esstischen vor allem eines nicht: stinken. Renner an den Käsetheken der Republik, das zeigen Umfragen, ist holländischer Gouda, meist in der „jungen“ Variante. Besonders Wagemutige verlangen schon mal „mittelalt“. Dabei zeigt sich erst bei altem oder sehr altem Gouda, was auch in diesem Massenprodukt stecken kann, wenn man es ordnungsgemäß reifen lässt.

Hinter Gouda folgt mit einigem Abstand Camembert, Emmentaler und Butterkäse. Dabei hat das, was unter der Bezeichnung „Camembert“ in hiesigen Supermärkten ausliegt, mit einem echten Rohmilch-Camembert aus der Normandie nichts zu tun. Französische Käsefabriken haben  sich darauf eingestellt und produzieren unter Namen wie „Géramont“ einen Käse vom Typ Camembert, der deutschem Geschmacks- und Qualitätsempfinden entspricht.

„C’est bon, c’est bon – Géramont!“, säuselt die Werbung. Géramont wurde 1973 auf dem deutschen Markt eingeführt und habe, so die Werbetexter der in den Vogesen beheimateten Käserei, „die Herzen der Verbraucher im Sturm“ erobert. Zitat: „Den großen Erfolg verdankt Géramont vor allem seiner Reifegarantie: Der cremige Géramont ist der erste französische Weichkäse, der im Gegensatz zu anderen Weichkäse-Sorten nicht zerläuft.“

Franzosen würden einen Weickäse, der nicht „läuft“, kaum in den Einkaufskorb legen, wie ein Test offenbarte, den der TV-Koch Nelson Müller bei deutschen und französischen Passanten auf einer Straße unternahm. Wie erwartet, beurteilen die Deutschen den angebotenen französischen Camembert als „bisschen zu kräftig“, während die Franzosen den deutschen Käse für „charakterlos“ halten.

Dass aus Käse wirklich Käse wird, ist in Frankreich seit jeher Aufgabe professioneller Affineure, die junge Laibe unterschiedlichster Herkünfte sozusagen fabrikneu kaufen und dann in eigenen Räumlichkeiten reifen lassen.  Erst wenn ein Käse „auf den Punkt“ gereift ist, wird er an die Kunden ausgeliefert. Käse sei wie eine „belle femme“, eine schöne Frau, man müsse immer auf den richtigen Zeitpunkt warten, sagte einmal Monsieur Antony, einer der besten Affineure Frankreichs, der im südelsässischen Sundgau zu Hause ist und die berühmtesten Restaurants mit seinen Produkten beliefert, schon mal im firmeneigenen Rolls Royce oder, wenn es schnell gehen muss per Hubschrauber. Heute würde Monsieur Antony für diesen Satz, gefallen in den 90er Jahren, von der Öffentlichkeit wohl gnadenlos abgestraft.

Käse, an dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei, ist nun einmal verschimmelte Milch und zwar in unterschiedlichsten Stadien der Verwesung. Und Käse wird meist, nicht immer, umso besser, je älter er ist. Wobei es eine Grenze gibt, die sich in einem (zu) scharfen Geruch nach Ammoniak und einem extrem bitteren Geschmack manifestiert. Dann ist ein Käse definitiv über dem Punkt, was manche Menschen aber nicht davon abhält, ihn trotzdem zu essen. Übereifer Camembert etwa, dessen ursprünglich reine, weiße Haut sich in eine bräunlich-schwarze Kraterlandschaft verwandelt hat, kann einen so intensiven Leichengeruch verströmen, dass sensibleren Naturen schlecht davon wird. Für andere ist es der ultimative Genuss.

Natürlich gibt es auch Käse wie den Schweizer Gryerzer, einen Emmentaler oder den geruchsarmen Parmesan, die selbst in fortgeschrittenem Alter nicht „stinken“ und trotzdem hervorragend schmecken. Auch junge Ziegen- oder Schafskäse können ein Genuss sein und es spricht nichts dagegen, sie schon im zarten Alter zu verzehren. Doch man kann sie auch liegen lassen und beobachten und erschmecken, wie sich im Laufe der Zeit ihr Charakter ändert, bis aus einem Quark artigen Frischkäse ein intensiv nach Ziege oder Schaaf schmeckendes Produkt geworden ist, das in seiner elastischen Textur an Kaugummi erinnern kann.

Zu der Abneigung gegen allzu dominante Geschmäcker gesellt sich bei vielen Deutschen eine zuweilen fast panische Angst vor Schimmel. In einem feuchten Souterrain-Zimmer kann Schimmel durchaus eine Gesundheitsgefahr darstellen. Doch mit Edelschimmel, mit dem Käse geimpft werden, hat der gemeine Hausschimmel nichts zu tun. Es ist ganz einfach –  ohne Schimmel, kein Käse, wenn man von Frischkäse einmal absieht.

Es sind erst die unterschiedlichen Schimmelsporen, die sich auf der Oberfläche des Käses und in seinem Inneren entwickeln und zu ganz unterschiedlichen Resultaten führen, mit rotem, blauen, grünen oder weißem Flor und sehr komplexen Geschmacksnuancen. Deswegen soll es allein in Frankreich rund 1000 Käsesorten geben, weltweit sind es 5000. Das unscheinbare Grundprodukt ist überall – Milch.

Welcher Käse der größte „Stinker“ ist, darüber scheiden sich die Geister. Vor einiger Zeit versuchten britische Forscher, mit einer Computer gesteuerten „elektronischen Nase“ sowie einer Jury aus 19 Freiwilligen den „stinkigsten Käse“ der Welt zu ermitteln. Auf Platz eins landete ein Käse, der außerhalb Frankreichs fast unbekannt ist, der „Vieux Boulogne“, ein sogenannter Rotschmierkäse aus Boulogne-sur-Mer in Nordfrankreich. Er soll sein infernalisches Aroma dem Einreiben mit Bier verdanken, im Zusammenspiel natürlich mit Brevibacterium linens, das für das „Rotschmieren“ bevorzugt verwendet wird. Auf dem zweiten Platz landete der ebenfalls aus Kuhmilch bereitete „Pont l’Evêque“ aus der Normandie, mindestens drei Wochen alter Camembert belegte in der Wertung den dritten Platz.

Allgemein gelten Rotschmierkäse als die geruchs- und geschmacksintensivsten Käse. Darunter fällt auch von Mild-Liebhabern beargwöhnte Münsterkäse aus dem gleichnamigen Tal in den Vogesen unweit von Colmar. Wenn ich ins Elsass fahre, bringe ich mir immer ein paar Laibe mit nach Hause, natürlich aus lait cru, aus Rohmilch, handgeschöpft in kleinen Käsereien auf den Höhen der Vogesen. Die sind etwa doppelt so groß wie ein Handteller und werden von Fachgeschäften wie jenem in der Altstadt von Colmar, wo ich gerne einkaufe, in verschiedenen Reifestufen angeboten. Ich kaufe immer zwei oder drei Laibe, die sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befinden, und lege sie zu Hause in den Kühlschrank, wo ich sie weiter kontrolliert vergammeln lasse.

Oft landen die mürben und intensiv duftenden Scheiben dann in einem würzigen Kartoffelauflauf. Und es gibt noch ein anderes, typisch elsässisches Gericht, bei dem Munster zum Einsatz kommt: Pommes de Terre coiffées de Munster, also große Pellkartoffeln, die ausgehöhlt, mit Munster gefüllt und dann gebacken werden. Dazu ist man, wie zu einem Schweizer Raclette, Gewürzgurken und vielleicht einen Salat. Auch französische Gewürzgurken sind viel pikanter als deutsche. Wenn man den süßen Kindergeschmack gewöhnt ist, braucht es einige Zeit, um sich umzustellen. Doch dann möchte man die extrem sauren Stangen nicht mehr missen.

Also Mut zum Geschmack und zum Stinkekäse! Es muss ja nicht gleich ein derart explosives Exemplar sein wie jener anonyme korsische Käse aus „Asterix auf Korsika“, dessen Ausdünstungen selbst bei einem Vielfraß wie Obelix blankes Entsetzen hervorrufen und schließlich das Piratenschiff in die Luft sprengen.

Dieser Beitrag wurde bereits im wöchentlichen Magazin „Leib & Speise“ auf Kontrafunk Radio – Die Stimme der Vernunft gesendet.

Foto: Pixabay

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