Die Mär von den “Strahlenpilzen”

von | Okt 17, 2022 | Aufmacher | 0 Kommentare

Alle Jahre wieder, wenn im Herbst die Pilze sprießen, wird man in vielen Medien mit den immer gleichen Warnungen konfrontiert. Auch 35 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, so heißt es, seien Waldpilze radioaktiv belastet. Vor allem in manchen Regionen Süd- und Ostbayerns, wo sich seinerzeit die radioaktiven Wolken bevorzugt abgeregnet hätten, sei Vorsicht geboten. Wer sicher gehen wolle, solle besonders verseuchte Arten wie den beliebten Maronen- oder den Rotfußröhrling nur in kleinen Mengen essen. „Schwangere, stillende Mütter und Kinder“, heißt es, sollten ganz auf den Genuss dieser Pilze verzichten. Zudem „bunkerten“ Waldpilze auch andere Schadstoffe wie Blei, Quecksilber oder Cadmium und sie seien zudem möglicherweise mit den Eiern des gefährlichen Fuchsbandwurms kontaminiert.

Bei solchen Meldungen vergeht manchen Menschen von ganz alleine die Lust an einer herbstlichen Pilzwanderung mit anschließender Pilzmahlzeit. Ohne Alarm geht es eben nicht im Land der Verbotspolitiker und Ökogouvernanten.

Quelle der Warnungen sind etwa das dem Bundesumweltministerium unterstellte Bundesamt für Strahlenschutz, die Landesumweltämter oder private Institutionen wie das Umweltinstitut München, ein gemeinnütziger Verein, der unmittelbar nach der Explosion des Reaktors in der ehemaligen Sowjetunion im Frühjahr 1986 gegründet wurde.

Zu den Dienstleistungen des Instituts, das sich selbst als „Wegbereiter einer Protestbewegung“ sieht und sich neben dem Kampf gegen die Atomkraft mittlerweile auch dem Kampf gegen den Klimawandel verschrieben hat, zählen seither unter anderem die regelmäßigen Messungen der radioaktiven Belastung von Waldpilzen, Wildbret und wild gesammelten Beeren. Privatsammler können entsprechende Proben einreichen. Die Ergebnisse veröffentlicht das Institut auf einer „interaktiven Landkarte“ mit roten, gelben und grünen Punkten.

Rot leuchtet beispielsweise eine Probe, die mit mehr als 600 Becquerel Cäsium-Gesamtbelastung pro Kilogramm Frischmasse kontaminiert gewesen ist. 600 Becquerel, das entspricht dem in der EU gültigen offiziellen Grenzwert für Lebensmittel. Nahrungsmittel mit einer höheren Belastung dürfen nicht mehr verkauft werden. Doch das Umweltinstitut zweifelt den Grenzwert an. Generell gebe es keinen Grenze, unterhalb derer Radioaktivität ungefährlich sei. Deswegen gelte das Minimierungsgebot – soll heißen: So wenig Radioaktivität wie möglich aufzunehmen! Auch die Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz, Inge Paulini, rät dazu, in Bayern selbst gesammelte Pilze nur in Maßen zu verzehren, “um“, wie sie sagt, „eine unnötige Strahlenbelastung zu vermeiden”.

Tatsache ist, dass 1986 radioaktiver Fallout aus Tschernobyl über Teilen Europas niedergegangen ist. Eine Zeitlang wurde damals auch in Deutschland eine signifikant erhöhte Umgebungsstrahlung gemessen. Auf Feldern liefen Männer in Schutzanzügen mit Geigerzählern herum, Bauern sollten ihre Kühe von der Weide holen und angeblich verseuchten Salat unterpflügen und Niedersachsen empfahl Kleingärtnern, die oberste Bodenschicht ihrer Beete abzutragen. Eilig wurden Grenzwerte erlassen, die sich dank des deutschen Föderalismus von Bundesland zu Bundesland unterschieden. So empfahl die Bundesregierung für Kuhmilch einen Grenzwert von 500 Becquerel pro Liter; Schleswig Holstein setzte dagegen nur 50 Becquerel an, ein Zehntel.

Schon damals wurde heftig darüber diskutiert, wie sinnvoll diese Aktionen waren. Und bis heute ist ungeklärt, wie sich niedrige, also nicht unmittelbar tödliche Strahlendosen, wie sie die Einsatzkräfte in Tschernobyl bei ersten Aufräumarbeiten im havarierten Reaktor erleiden mussten, auf die menschliche Gesundheit auswirken. Wirklich belastbare Studien dazu gibt es nicht, weil die Zeiträume sehr lang sind, in denen in den Körper aufgenommene Radionuklide wie Cäsium 137 oder Strontium 90 möglicherweise Krebs und Leukämie auslösen könnten. Im Zweifelsfall gehen die möglichen toxischen Langzeitwirkungen radioaktiver Stoffe im Grundrauschen der natürlichen Umgebungsstrahlung, anderer künstlicher Strahlenquellen wie Röntgenaufnahmen und Flugreisen oder einfach einem ungesunden persönlichen Lebensstil mit zu viel Fastfood und zu wenig Bewegung unter.

Von dem ganzen Durcheinander und der Panik direkt nach Tschernobyl ist nur noch das herbstliche Mess- und Warnritual bei Waldfrüchten und Wildbret übrig geblieben. Doch wie groß ist die Gefahr wirklich, die Pilzliebhabern droht, die auf selbst gesammelte Steinpilze, Pfifferlinge oder Maronenröhrlinge nicht verzichten wollen? Und die nicht nur die auf Nährsubstraten in Höhlen kultivierten Zuchtpilze wie Champignons, Kräuterseitlinge oder Shitake-Pilze genießen möchten. Die gelten nach allgemeiner Darstellung, oh Wunder, als „unbelastet“.

Laut Bundesamt für Strahlenschutz wurden im Zeitraum 2019 bis 2021 Messwerte von mehr als 1000 Becquerel Cäsium 137 pro Kilogramm Frischmasse etwa bei Semmelstoppelpilzen, Gemeinen Rotfußröhrlingen, Maronenröhrlingen und Gelbstieligen Trompetenpfifferlingen festgestellt. Zwar gehe die Belastung zurück, weil das Cäsium mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren langsam an Aktivität einbüße und zudem in tiefere Bodenschichten einsickere, doch dieser Prozess schreite nur langsam voran. Die besonders begehrten und schmackhaften Steinpilze gelten generell als weniger betroffen.

Doch was bedeutet eine radioaktive „Belastung“ von beispielsweise 1000 Becquerel in einem Kilogramm frischer Pilze oder einer Partie Wildschweinfleisch?

Zunächst etwas Theorie: Ein Becquerel entspricht dem radioaktiven Zerfall eines einzigen Atoms. Die Maßeinheit Becquerel wird aber nicht für die Strahlenbelastung herangezogen, da sie sinngemäß nur eine „Kontamination“ mit zerfallenden Atomen darstellt. Erst aus dem Zerfall dieser Atome entsteht jene gefährliche oder weniger gefährliche Strahlung, die in Sievert gemessen wird oder den Untereinheiten Milli-SV und Mikro-SV.

Die Aufnahme von 80 000 Becquerel Cäsium-137 mit der Nahrung entspricht einer Belastung von etwa einem Millisievert bei Erwachsenen. Die maximal zulässige Dosis der jährlichen Strahlenbelastung für beruflich strahlenexponierte Personen in Deutschland wie Radiologen oder Mitarbeitern in Kernkraftwerken liegt bei 250 Millisievert. Dieser Wert ist zusätzlich zur natürlichen Strahlenbelastung erlaubt.

Letztere liegt hierzulande durchschnittlich bei etwas mehr als zwei Millisievert pro Jahr, schwankt aber je nach Wohnort – von einem Millisievert in der norddeutschen Tiefebene bis zu zehn Millisievert in gebirgigen Gegenden wie der Eifel. Anderswo auf der Welt sind die Werte der natürlichen Strahlenbelastung hundert Mal so hoch, ohne dass die dort lebenden Menschen irgendwelche Schäden erleiden. So beträgt die Strahlung in Ramsar im Iran am sogenannten Schwarzen Strand sogar 400 Millisievert pro Jahr  Das ist ganz nebenbei gesagt das Mehrfache jener Strahlung, die in der Evakuierungszone um das havarierte Kernkraftwerk Fukushima herrscht.

Und nch ein paar Beispiele: Ein Flug von Frankfurt nach New York und zurück führt zu einer durchschnittlichen effektiven Dosis von ca. 0,1 Millisievert. Ein Ganzkörper-CT im Krankenhaus dagegen bringt so viel Strahlenbelastung wie 200 Flüge ins ferne Tokio, also zehn bis zwanzig Millisievert. Piloten erhalten zusätzlich 1,2 Millisievert, wenn sie 600 Flugstunden pro Jahr auf der Nord-Route fliegen. Raucher, die zwanzig Zigaretten pro Tag konsumieren, bekommen 14 Millisievert pro Jahr zusätzlich ab und ein Aufenthalt im Space Shuttle bestrahlt einen Astronauten mit circa 200 Millisievert.

Als letale Strahlendosis gelten fünf Sievert, also 5000 Millisievert, innerhalb kurzer Zeit. Dann wird der betroffene Mensch strahlenkrank und stirbt. Ein Mensch kann aber fünf Sievert über einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein, ohne zu sterben oder zu erkranken. Es kommt eben immer auf die Dosis in Bezug zur Dauer der Exposition an. Wer auf einen Sitz zehn Liter Schnaps trinkt, stirbt vermutlich an einer Alkoholvergiftung, wer jeden Tag abends ein Stamperl pichelt, darf sich dagegen mit einiger Wahrscheinlichkeit einer normalen Lebenserwartung erfreuen.

Doch zurück zu unseren Pilzen: Laut Bundesamt für Strahlenschutz führt eine wöchentliche Mahlzeit mit jeweils 200 Gramm Maronenröhrlingen, die mit 2 100 Becquerel Cäsium belastet sind – dem Höchstwert bei dieser Pilzart in den letzten drei Jahren – zu einer zusätzlichen Strahlenexposition von etwa 0,27 Millisievert pro Jahr. Dies ist etwas mehr als ein Zehntel der durchschnittlichen Strahlenexposition aus natürlichen Quellen in Deutschland während eines Jahres.

Wenig dramatisch erscheint auch die Cäsium-Belastung von Wildbret. Wildschweine lieben die unterirdisch wachsenden Hirschtrüffel, die deutlich stärker kontaminiert sind als oberirdisch wachsende Pilze. Ihr Fleisch gilt deshalb als besonders belastet. Bundesweit wurden im Rahmen eines Messprogramms 2019-21 Maximalwerte von 1600 Becquerel pro Kilogramm Wildschweinfleisch ermittelt, meist jedoch deutlich niedrigere. Bei Reh betrug der Wert gerade mal 200, bei Hirsch 50 Becquerel.

Wenn man dies alles noch in Beziehung setzt zu einem normalen Lebensstil mit gelegentlichen Flugreisen und Röntgenuntersuchungen ist die gelbe Gefahr aus dem Kochtopf de facto nicht existent – selbst wenn man sich nahezu ausschließlich von hoch belasteten Pilzen und Wildfleisch ernähren würde, was niemandem in den Sinn käme. Analog gilt dies für die angeblich ebenfalls so bedenkliche Belastung von Pilzen mit Schwermetallen oder den berühmt-berüchtigten Fuchsbandwurm. Das Risiko, deswegen zu erkranken, liegt bei nahe Null.

Dass das Bundesamt für Strahlenschutz dennoch rät, sich über die üblicherweise „stärker belasteten Pilze“ zu informieren und sie im Wald stehen zu lassen, um eine „unnötige Strahlenbelastung“ zu vermeiden“, ist nur schwer zu erklären. Es sei denn, man ginge davon aus, dass der eigentliche Grund für den nicht enden wollenden Atomalarm darin zu suchen ist, die Bevölkerung weiterhin davon abzuhalten, Sympathien für die Atomkraft zu entwickeln. Es sich also nicht um gesundheitliche Fürsorge handelt, sondern um Politik. Eine Politik mit System, die durch immer strengere Grenzwerte und immer feinere Messmethoden nicht existente Umweltgefahren heraufbeschwört – erinnert sei nur an die unsägliche Feinstaubdiskussion. Wer das einmal verstanden hat, wird sich mit umso größerem Genuss der nächsten Pilzmahlzeit zuwenden.

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