Serie Märkte (3): Rungis bei Paris

von | Okt 13, 2023 | Aktion, Aufmacher | 0 Kommentare

Von Jacques Dutronc hat man lange nichts mehr gehört. Es ist still geworden um den Pariser Chansonier und Schauspieler. Doch seine unsterbliche Ballade „Il est cinq heures, Paris s’eveille“ rührt bis heute die Nachtschwärmer und Frühaufsteher, wenn Dutronc mit monotoner Stimme das Erwachen der Metropole um fünf Uhr morgens beschreibt. Dann machen sich Transvestiten, Stripteasetänzerinnen und die letzten Gäste aus den verruchten Bars auf den Heimweg, während die ersten Pendler aus der Banlieue die Stadt erreichen, gleichzeitig unzählige Straßenfeger die berühmten Boulevards und schicken Avenues vom Schmutz der Nacht befreien und ihnen für einen Tag ihren legendären Glanz zurückgeben.

Vergessen zu erwähnen hat Jacques Dutronc in seinem Chanson aus dem Jahre 1968 den „Bauch von Paris“, jene legendären Markthallen in der alten Mitte der Stadt. Denn dort, wo seit dem Mittelalter das Pariser Nachtleben eine ganze andere, wenig glamouröse Ausrichtung hatte, wo unzählige Bäcker, Metzger, Fleischer, Fischhändler, Blumen- und Obsthändler ihre Waren anboten, war um fünf Uhr morgens weitgehend Feierabend. Dann traf man sich im „Chien qui fume“ auf eine heiße Zwiebelsuppe, bestellte gegrillte Schweinsfüße im „Pied de cochon“ und bewunderte die „Forts des Halles“, jene kräftigen, blutverschmierten Fleischträger, die bereits in den frühen Morgenstunden ausreichend Rotwein schlürften und sich einen Scherz daraus machten, eingeklemmte Autos aus der Parklücke zu tragen.

Doch der „Bauch von Paris“ ist längst Geschichte. Anfang März 1969 zieht der aus allen Nähten platzende Großmarkt an einem Tag aus dem engen historischen Stadtzentrum nach Rungis vor die Tore der Hauptstadt. Eine logistische Meisterleistung. Die zwölf Pariser Markthallen müssen den Baggern weichen und aus dem Bauch wird das Loch von Paris. Nach heftigen Diskussionen entsteht auf dem historischen Marktgelände das von den meisten Parisern ungeliebte „Forum des Halles“.

Heute blickt die „Grande Nation“ voller Stolz nach Rungis. Hier liegt nun Frankreichs kulinarische Seele, in Sachen Feinschmeckerei ist Rungis der Nabel der Welt. Denn das einst verschlafene Provinznest, nur wenige Kilometer südlich von Paris und unweit des Flughafens Orly gelegen, beherbergt den weltweit bedeutendsten Großmarkt für Lebensmittel und Blumen. Doch das ist untertrieben. Rungis ist kein Großmarkt, Rungis ist eine Stadt. Größer als Monaco, mit 234 Hektar Fläche so groß wie 330 Fußballfelder, auf denen jährlich rund neun Milliarden Euro Umsatz gemacht werden. Eine Stadt mit rund 70 Kilometer Straßen, auf denen sich Nacht für Nacht mehr als 25.000 Fahrzeuge übers Gelände drängeln, eigenem Polizeirevier, 17 Restaurants und Brasserien, einer Bank, Reisebüro, Kindergarten, einem eigenen Güterbahnhof.

Und natürlich Hallen, die in ihren Ausmaßen an Flugzeughangars erinnern. Soweit das Auge reicht. Neun sind es allein für Obst und Gemüse, sieben für Fleisch, noch mehr für Blumen. Hallen für Käse und Milchprodukte, Geflügel und Wild, Rinder, Lamm, Schweine und Innereien. Und alle voll bis unters Dach. Rungis ist ein Ort der Superlative, konkurrenzlos, ein sich schnell drehendes Karussell für Produkte aus aller Welt und ein sicheres Barometer, was in den Küchen rund um den Globus gerade Trend ist. Neue und exotische Produkte tauchen hier zum ersten Mal auf, wiederentdeckte alte Gemüsesorten gehören längst zum Standardrepertoire, es gibt Hallen mit ausschließlich Bio-Produkten. In Rungis gibt alles und noch viel mehr.

Jede Nacht kommen rund 30.000 Menschen in die pulsierende Marktstadt, liefern Produkte an, verkaufen und kaufen und transportieren sie wieder ab. Doch ohne autorisierten Passierschein als Händler oder Käufer kommt in Rungis niemand aufs Gelände. Für Besucher bietet der Großmarkt mehrstündige Führungen an, Sven Bleß von Transgourmet hat eine für uns organisiert. Mit unserem Guide Jean sind wir um vier Uhr morgens vor der riesigen Fischhalle verabredet. Eigentlich zu spät, denn um vier Uhr ist in der Fischhalle das Geschäft weitgehend gelaufen, sind die meisten Fische verkauft. Gleich nebenan, am langen Tresen der Brasserie „A la Maree“, stehen schon die Fischhändler mit ihren Kunden und stoßen mit einem Glas Burgunder auf gute Geschäfte an.

Derweil herrscht in der eiskalten Halle noch hektisches Treiben. Wendige Gabelstapler fahren im Slalom zwischen den überall herumstehenden Kisten hin und her. Die Temperatur der Halle liegt nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt, der Boden gleicht einer riesigen Pfütze. Gellende Rufe schallen von allen Seiten durch den riesigen Raum, die Ware muss jetzt schnellstens auf den Weg. Da muss jeder Handgriff sitzen, die Fische und Meerestiere ordentlich auf Eis liegen. Alles sicher verpackt in weißen Styroporkisten, die in Windeseile auf Paletten gestapelt werden. Länger als 36 Stunden, maximal 48, länger darf der Transport an jeden beliebigen Ort der Welt nicht dauern. Ein echter Knochenjob für die Männer, die mit ihren weißen Kitteln und weißen Mützen aussehen wie eine Heerschar von Eskimos. Nur am Firmenlogo auf den Jacken kann man die Firmenzugehörigkeit erkennen. Insgesamt bieten 48 Händler Fische aus allen Weltmeeren in der Halle an, auf dem gesamten Gelände sind rund 1200 Unternehmen aktiv.

Wann hat man schon mal ganze Rinderhälfte von der Decke hängen sehen? Und das gleich zu hunderten. Wir staunen nicht schlecht angesichts der Menge, es riecht penetrant nach Blut und frischem Schlachtfleisch. Nur wenige Meter weiter steht die Halle für Innereien. Eine Welt für sich und kein beschaulicher Ort für zarte Gemüter, Vegetarier und Veganer. In riesigen Kübeln liegen Eingeweide und Schweinefüße, eimerweise Leber, Nieren, Zungen, Kalbsbries und Hirn, dutzende abgekochte Kalbsköpfe hängen in Reih und Glied an blitzenden Metzgerhaken. Ein Teil der Ware kommt aus deutschen Schlachthäusern, dort ist sie fast unverkäuflich. Mehr als 50 Tonnen Innereien wechseln täglich den Besitzer, vorwiegend sind es französische Köche, die sich für das Angebot interessieren. Aber auch der Chefkoch des Weißen Hauses wurde hier schon gesichtet.

In den Obst- und Gemüsehallen triumphieren bunte Farben. Palettenweise Erdbeeren mitten im November, Äpfel und Birnen in allen Farben und Formen, grüne und rote Trauben in allen Varianten und Größen, tausende von Kiwis und Orangen, Unmengen von Melonen, akkurat gestapelt zu Pyramiden. Daneben ordentlich aufgeschichtete Karotten, kistenweise frischer Knoblauch, Artischocken wie gemalt. Eine echte Erholung für Nase und Augen. Das Angebot in Rungis ist so riesig und vielfältig, dass man Tage braucht, um alles zu sehen. Und natürlich, um das Beste zu finden. Die Suche nach den besten Produkten beginnt in Rungis mitten in der Nacht. Dann schläft die Seine-Metropole noch und wartet auf den Weckruf von Jacques Dutronc: Es ist fünf Uhr, Paris erwacht. In Rungis bereitet man sich um diese Uhrzeit auf den Feierabend vor.

Foto: Pixabay

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