Gourmetküche: Die große Orientierungslosigkeit

von | März 14, 2025 | Aufmacher | 0 Kommentare

Einst war die Bibel das Buch der Bücher. Heute findet man manchmal noch ein verstaubtes Exemplar im Nachtkästchen eines Hotels, ansonsten zeugt wenig von der früheren Allgegenwart der „Heiligen Schrift“. Auch Goethes „Faust“ kennen die meisten gerade noch vom Hörensagen, den Autor aus einer Pennälerklamotte. Sei es in der Literatur, auf den Theaterbühnen, in der bildenden Kunst, Musik oder Architektur – einen verbindlichen „Kanon“, Stile, dominante Strömungen sucht man vergebens. Allerorten nur Egotrips traditionsvergessener Selbstdarsteller. 

Auch die Sphäre der Kulinarik ist vom Trend zur völligen Losgelöstheit nicht verschont geblieben. Die im Nachhinein wegen ihrer modischen Extravaganzen zuweilen belächelte „Nouvelle Cuisine“ war ja gar nicht so neu, als wie sie sich ausgab. Es war die gute, alte „Grande Cuisine“ der Franzosen, nur frischer, leichter und mit mehr Respekt für das Produkt. Ansonsten änderte sich wenig, abgesehen von den Portionsgrößen.

Nach ihr kam Ferran Adrià mit seiner Molekularküche, schlug alles kurz und klein, und baute aus den Einzelteilen mit Hilfe avancierter Küchentechnik etwas ganz Neues. Seine aus Dutzenden winziger „Gänge“ bestehenden, im Labor konstruierten Speisefolgen versprachen weniger Bauchgefühl als intellektuelles Vergnügen. Nur ein beständiger Reiz der Sinne, perfekt abgestimmt auf das unstete, unentwegt nach Belohnung heischende Konsumverhalten der Social-Media-Generation.

Dem radikalen Dekonstruktivismus des Katalanen, der immerhin noch als stilprägend gelten konnte, folgte die große Orientierungslosigkeit. In Zeiten von „Crossover“, „Fusion“ und „Ethno“ ist schlechterdings alles möglich, werden die Zutaten sowie Zubereitungs- und Konservierungstechniken aller Regional- und Nationalküchen dieser Welt wild durcheinandergeworfen, inklusive der längst in den Mainstream durchgesickerten Gimmicks aus dem Hause Adrià plus einer Prise pseudo-ökologischer Achtsamkeit.

Die vorgebliche Vielfalt der Produkte, Texturen, Aromaten im Zeichen von „anything goes“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf den kunstvoll arrangierten Schieferplatten, Holzbrettchen und Keramiktellern vieler Gourmetrestaurants die große Leere um sich greift. Am Ende hat man alles und nichts geschmeckt. Und beginnt an sich selbst zu zweifeln, ob man aufmerksam genug gegessen hat, um der kulinarischen Offenbarungen, die mit zunehmend wortreichen Erläuterungen versehen werden, teilhaftig zu werden. Ein Kollege sprach zutreffend vom Phänomen der „Genussnervosität“. Echter Genuss sieht anders aus.

Namen tragen die betreffenden Kreationen meist keine mehr; auf den Speisekarten werden konsequenterweise nur noch Zutaten aufgelistet. Ansonsten ist man der kreativen Tagesform des jeweiligen Küchenchefs ausgeliefert. Früher wusste man bei einer „Lady Curzon“ (Schildkrötensuppe), „Tournedos Rossini“ (Rinderfilets und Gänseleber mit getrüffelter Sauce Périgueux) oder einem „Crêpe Suzette“ (Pfannkuchen mit Orangenbutter flambiert) zuverlässig, was einen erwartet, wobei das Ergebnis, abhängig vom Können der Köche, immer noch zwischen grottenschlecht und himmlisch ausfallen konnte. Heute, wo Poppkorn und kandierter Wirsing zum Repertoire der Hochküche zählen, fehlen Köchen wie ihrer Klientel die Beurteilungsmaßstäbe. Dauernde Grenzüberschreitungen verlieren ihren Reiz, wenn es keine Grenze mehr gibt, die zu überschreiten wären.

Wenn sich Küchenchefs dennoch immer mal wieder pflichtschuldig auf die französische Klassik berufen, ist dies meist nur leere Behauptung. Mit dem bloßen „Nachkochen“ von Klassiker, so genial sie schmecken mögen, kann man die Inspektoren des Guide Michelin nicht beeindrucken oder vom Gault & Millau zum „Koch des Jahres“ erklärt werden. Dafür braucht es „Kreativität“, je mehr, umso besser. Doch Köche sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine genialen Künstler, die imstande sind, wirklich Neues zu produzieren, auch wenn sie zu solchen stilisiert werden sollen oder sich selbst als solche ausgeben. Sie sind allenfalls Kunsthandwerker, die auf unterschiedlichem Niveau individueller Kunstfertigkeit wirken, weniger schöpfen als reproduzieren.

Als solche sollten sie sich endlich wieder auf die Wurzeln ihres Handwerks in ihrem jeweiligen Kulturkreis besinnen. Warum fällt es heute so schwer, selbstbewusst an das anzuknüpfen, was die Altvorderen geleistet haben? Es gibt Dinge, die einfach nicht besser gemacht werden können. Eine simple Beurre blanc zum Beispiel. Die Subtilität dieser Sauce ist unübertroffen, wenn es darum geht, Fisch auf ein neues Genussniveau zu heben. Trotzdem wird sie in der Reinform den Gästen meist vorenthalten, meinen moderne Köche, sie mit exotischen Gewürzen oder Miso aufpeppen zu müssen, einer japanischen Gewürzsauce, ohne die gerade gar nichts geht.

In den Opernhäusern hat das „Regietheater“ mehr oder weniger ausgedient. Anstelle der Selbstverwirklichungsspektakel linkslastiger Regisseure erfreuen sich beim Publikum konzertante Aufführungen steigender Beliebtheit, bei denen man Musik und Gesang genießen kann, ohne von tendenziösen Konzepten belästigt zu werden. Wäre das nicht ein Modell für die die Gourmetküche? Mal wieder Klassiker wie einen „Lièvre a la Royale“ („Hase königliche Art“) nach Paul Bocuse (zwei Flaschen mindestens fünf Jahre gelagerter, roter Burgunder, sechzig Schalotten, dreißig Knoblauchzehen!) genießen zu können? Ganz unkreativ!

Foto: Pixabay

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